Verlorene Zeiten?. Группа авторов

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wollten einst in der DDR leben und haben dafür Australien verlassen. Nun leben Sie schon 20 Jahre in der BRD. Wie geht es Ihnen heute damit?

      (Lacht) Mein Gott … Ich habe das Gefühl, wir werden in der BRD genauso manipuliert, wie wir in allen kapitalistischen Ländern schon immer manipuliert wurden. Ich wüsste aber nicht, wo ich sonst leben wollte. Vielleicht, weil ich es gewohnt bin, hier zu leben. Weil ich mir hier ein Leben eingerichtet habe und mich hier wirklich wohl fühle. Berlin ist eine internationale, aufregende Stadt geworden in den letzten 20 Jahren. Ich habe auch das Gefühl, dass hier in der BRD die Nazivergangenheit in einer Weise aufgearbeitet worden ist, wie in keinem anderen Land – und das ist eine wirkliche Leistung, finde ich. Ich glaube, es gibt hier viele Menschen, die einen Verantwortungssinn entwickelt haben aufgrund dieser Nazivergangenheit. Das macht sich in der Gesellschaft schon bemerkbar. Gleichzeitig gibt es hier viel Ungerechtigkeit. Die Schere zwischen Arm und Reich ist in den letzten 20 Jahren sehr weit auseinandergegangen. Wie überall gibt es einen Mangel an Gerechtigkeit, was mich sehr stört. Aber ich habe gelernt, dass ich gesamtgesellschaftlich nicht allzu viel tun kann.

      Es klingt nach Resignation, wie Sie die Verhältnisse in der BRD beschreiben.

      Ich kann höchstens mich selber ändern, vielleicht anderen ein Ohr leihen und ein paar Fragen stellen. In der Hoffnung, dass andere Menschen etwas mehr zu sich selber kommen. Und ich bin mir ziemlich sicher, dass, wenn jedes Individuum es schafft, mit sich selbst ins Reine zu kommen und authentisch zu sein, seine Integrität zu finden, wir auf der Welt eine gerechtere Gesellschaft haben werden.

      Wenn Sie auf die DDR zurückblicken, das Land, in dem Sie unbedingt leben wollten – haben sich Ihre Erwartungen dort wenigstens ansatzweise erfüllt?

      Nein, natürlich nicht. Ich meine, ich konnte zum Beispiel nicht Journalistin sein. Aber – wie soll ich das jetzt ausdrücken? – was ich damals wollte, wollte ich durch meine bereits bestehende Entfremdung von mir selbst. Und naja, ich suchte immer einen liebenden Mann, der mit mir die zwei Kinder aufzieht. Das hab’ ich nie gefunden, und das hängt schon auch mit der DDR zusammen. Nicht nur mit mir, dass ich nicht in der Lage war, die Liebe eines Mannes entgegenzunehmen. Sondern auch damit, dass ich ein exotischer Vogel war in der DDR, ohne es zu wissen. Dass mir andere Leute nicht vertraut haben, weil ich doch in meiner Naivität immer sagte: „Aber der Kaiser ist doch nackt.“ Für die war das eine Stasiprovokation, eine Falle. Ja, dieses Misstrauen, das die Stasi im ganzen Land verbreitete, hat menschliche Beziehungen entweder zerstört oder gar nicht erst aufkommen lassen. Besonders zu solchen merkwürdigen Leuten wie mir.

      Gibt es etwas aus der DDR, was Sie vermissen?

      FKK (lacht). Ja, echt. Ich wüsste nicht, was sonst.

      Sehen Sie Ihr Leben in der DDR als verlorene Zeit‘ an?

      Nein. Es war keine verlorene Zeit. Meine Schwester Renia hat mal zu mir gesagt, als ich auf einem meiner Besuche in Australien war: „Du hast ein viel interessanteres Leben gehabt als ich.“ Damit hat sie recht. Ich habe so viel lernen müssen, um mit meinem Ich überleben zu können, um mich selbst nicht ganz aufzugeben. Das war für mich nicht möglich, mich ganz aufzugeben, obwohl ich es stark versucht habe. Ich habe so viel lernen müssen, was ich sonst nie gelernt hätte. Und vor allen Dingen ist ja die wichtigste Lehre, was ich wahrscheinlich ohne diese Erfahrungen nie gelernt hätte: Dass Familie meine Basis ist. Ich wollte mit Familie nichts zu tun haben, weil sie mir immer weh getan hatte. Diese Familie war aber trotzdem die Basis – eine Basis, die ich aufgegeben hatte, weil ich glaubte, meine Basis kann nur der Kommunismus sein, der Sozialismus, die Partei. Aber es gibt wirklich nur eins, was sich im Leben lohnt und das ist: Lieben können. Und Liebe empfangen können. Wenn man nicht gelernt hat, sich selbst zu lieben, dann ist man auch nicht in der Lage, Liebe zu empfangen. Das habe ich in meinem Leben lernen dürfen – auch dank der DDR.

      Sie haben über den öffentlichen Umgang mit der NS-Vergangenheit in Deutschland gesprochen – wie sollte man heutzutage mit der DDR umgehen?

      Differenziert sollte man die Dinge betrachten, finde ich. Man muss sagen: Es war eine Diktatur. Und man kann, ich finde sogar, man muss sie mit der anderen Diktatur vergleichen – ohne sie gleichzusetzen! Es besteht ein großer Unterschied zwischen Vergleichen und Gleichsetzen. Gleichzusetzen sind sie nicht, denn das würde den Nationalsozialismus verharmlosen. Ich vergleiche insofern, als ich sage, die Nazis haben Berge von Leichen hinterlassen, die DDR Millionen verkrüppelter Lebenswege. Das ist natürlich ein Satz, den DDR-Bürger nicht gern hören: Wer ist denn schon bereit, zu der Einsicht zu kommen, einen verkrüppelten Lebensweg zu haben? Das macht mein Buch ,Ich folgte den falschen Göttern‘ auch zu einer schweren Lektüre für manche DDR-Bürger. Aber so sehe ich das eben.

      Das Gespräch führte Vera Dost

       1 Vgl. vorwärts.de, 3.4.2009, www.vorwaerts.de/artikel/jewish-woman-of-the-world (25.6.09).

       2 Die Geschichte ihrer Kindheit erzählt Salomea Genin in: Scheindl und Salomea. Von Lemberg nach Berlin, Frankfurt a. M. 1993.

       3 So der Untertitel ihrer jüngst erschienen Autobiographie: Salomea Genin: Ich folgte den falschen Göttern. Eine australische Jüdin in der DDR, Berlin 2009.

       4 Abraham Genin (1889 – 1972) war von Juli bis September 1938 in Buchenwald inhaftiert. Im Oktober 1938 emigrierte er nach Shanghai, von dort später über Westdeutschland in die USA.

       5 Siebenarmiger Leuchter, eines der wichtigsten religiösen Symbole im Judentum.

       6 Gegründet 1901 zur Schaffung eines jüdischen Staates in Palästina.

       7 Im Januar 1953 brachte die sowjetische Nachrichtenagentur TASS die Meldung über eine angebliche Verschwörung jüdischer Ärzte, die beschuldigt wurden, zwei führende Funktionäre der KPdSU ermordet zu haben. Den Ärzten wurden Sabotageabsichten und Beziehungen zum JOINT unterstellt (American Joint Distribution Committee, eine US-amerikanische Hilfsorganisation, die nach Ende des Zweiten Weltkriegs die Einwanderung nach Palästina/ Israel unterstützte). Die Kampagne wurde nach Stalins Tod im März 1953 eingestellt.

       8 Rudolf Slánský (1901 – 1953), Mitglied des ZK der ČKP, wurde 1952 verhaftet und zum Tod verurteilt. Slánský wurde bezichtigt, Anführer einer zionistisch-bürgerlich- nationalistischen Verschwörung zum Sturz der Volksdemokratie der Tschechoslowakei zu sein.

       9 VEB Elektro-Apparate-Werk, Berlin Treptow.

       10 Radio Berlin International war der Auslandssender des DDR-Rundfunks mit Sendungen in Englisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch, Arabisch und Suaheli. Er bestand von 1959 bis 1990.

       11 Fremdsprachendienst der DDR.

       12 In diesem auch in der westdeutschen Linken viel rezipierten Buch untersuchte der Germanist Klaus Theweleit soldatische und faschistische Literatur, um die Entstehung des faschistischen Bewusstseins zu erforschen.

       13 Menschen, die offiziell als ,Verfolgte/r des Naziregimes‘ (VdN) anerkannt waren, erhielten in der DDR finanzielle Zuwendungen und Ehrenpensionen; sie wurden bei Wohnungssuche, Ferienplatzvergabe, Auto- und Telefonanmeldungen bevorzugt.

       14 Salomea Genin hat ihre Kinder vergleichsweise weniger reglementiert erzogen. Die preußischen ,Primärtugenden‘ (Ordnung, Disziplin, Gehorsam) erweckten in ihr schlimme Kindheitserinnerungen.

       15 Leszek (Lech) Walęsa (*1943), war von 1980 bis 1990 Vorsitzender der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc. Für große Teile der DDR-Bevölkerung war er ein Held, der sich

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