ad Fraenkel. Der Doppelstaat. Horst Dreier
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1951 kehrte Fraenkel nach Deutschland zurück. Seitdem lehrte er Politikwissenschaft am späteren Otto-Suhr-Institut der Freien Universität Berlin. Über zwanzig Jahre lang entwickelte er eine ungewöhnlich erfolgreiche Publikations- und Vortragstätigkeit zu zentralen Themen der Politikwissenschaft: In umfangreichen Amerikastudien vermittelte er der deutschen Öffentlichkeit die Prinzipien, Institutionen und Verfahren der amerikanischen Demokratie.7 Grundlegend für das Selbstverständnis der deutschen Demokratie wurden seine verbreiteten Arbeiten zur Theorie und Verfassung des Pluralismus. Sein zuerst 1964 publizierter Sammelband »Deutschland und die westlichen Demokratien« erschien in neun Auflagen.8 Fraenkels Pluralismusstudien bilden bis heute einen zentralen Bezugspunkt für die Debatten über die Konkretisierung des Demokratiegebotes des Grundgesetzes. In allen seinen neueren Arbeiten kam es Fraenkel entscheidend darauf an, Deutschland in den Kreis der westlichen Demokratien einzuführen, als deren Gegenbild er den Doppelstaat der NS-Zeit erlebt und erlitten hatte.
2. These und Ansatz des Doppelstaates
Die These des Doppelstaates9 ist, daß das nationalsozialistische Herrschaftssystem in zwei große Bereiche zerfällt: Im Normenstaat gelten alte und neue Vorschriften in dem Umfang, wie es zur Funktionsfähigkeit des auf Berechenbarkeit angelegten, im Prinzip weiter privatkapitalistisch strukturierten Wirtschaftssystems erforderlich ist. Im Maßnahmenstaat handeln die nationalsozialistischen Funktionsträger unabhängig von allen formalen Regeln und inhaltlichen Gerechtigkeitsvorstellungen so, wie es ihnen zur Erhaltung ihrer Macht und zur Durchsetzung ihrer spezifischen politischen Ziele – z.B. der Judenverfolgung – zweckmäßig scheint. Im Zweifel setzen sich die Prinzipien des Maßnahmenstaates gegen die des Normenstaates durch. Dieser Bezugsrahmen hat sich in vielen empirischen und theoretischen Studien als plausibel erwiesen.10
Das Spezifische des Ansatzes von Fraenkel besteht in der besonderen Form seines empirischen Zuganges: Er beschreibt die Funktionsweise des nationalsozialistischen Herrschaftssystems aus der unmittelbaren Anschauung eines Mitlebenden und Mitleidenden. Er greift aus der Fülle der politischen, administrativen und judikativen Vorgänge die typischen Beispiele heraus, wie sie nur einem wissenschaftlich und praktisch erfahrenen Autor erkennbar sind. Die von ihm ausgewählten Fälle und Tatsachen analysiert er exemplarisch im Hinblick auf ihre verallgemeinerungsfähigen Hintergründe und Konsequenzen.
Das Phänomen des Doppelstaates erklärt Fraenkel auf mehreren Ebenen: Er leitet den Doppelstaat aus sozialen, ökonomischen und politischen Interessenlagen ab. Er entwickelt den Doppelstaat aus der deutschen Staatstradition und aus den deutschen antidemokratischen Ideologien, wie sie maßgeblich bei Carl Schmitt ihren Ausdruck gefunden hatten.
Der Ansatz der Argumentation im Doppelstaat hebt sich deutlich von der Pluralismustheorie ab, die Fraenkel im Kern schon vor 1933, in ausgearbeiteter Form nach 1960 vertrat. Das ist jedoch keine theoretische Inkonsequenz, sondern notwendiger Ausdruck der unterschiedlichen Problemlagen. Der Pluralismus ist bei Fraenkel ein normatives Konzept zur Ausfüllung der Demokratiegebote der Weimarer Verfassung und des Grundgesetzes. In diesen Kategorien konnte der Nationalsozialismus nicht erfaßt werden. Im Doppelstaat ging es darum, die Erscheinungsformen und Gründe für die Vernichtung des Pluralismus zu untersuchen. Für diese Fragestellung liefert der im Doppelstaat entwickelte Ansatz ein bis heute gültiges originäres Konzept.
Ernst Fraenkels Doppelstaat ist ein Standardwerk über die Politik, die Justiz und das Recht im Nationalsozialismus. In den USA, in Großbritannien, in Deutschland und Italien erlangte der Doppelstaat den Rang eines Klassikers in der Literatur über die nationalsozialistische Epoche.
3. Der Urdoppelstaat von 1938
Die erste Fassung des Doppelstaates schrieb Fraenkel in Berlin in den Jahren 1936 bis 1938 unter den demütigenden Umständen, die ihm als Juden und bekannten sozialdemokratischen Gegner des Regimes auferlegt wurden.11 Er bezeichnete das 1938 abgeschlossene Manuskript selbst als den Urdoppelstaat.12 Veröffentlicht wurde der Urdoppelstaat von 1938 erstmals 1999 in Ernst Fraenkels Gesammelten Schriften, Bd. 2, S. 267 bis 473.13
Wie Fraenkel selbst bemerkte,14 beruht die Argumentation des Urdoppelstaates ganz wesentlich auf den Erfahrungen seiner Anwaltstätigkeit von 1933 bis 1938.15 Fraenkel verstand die heimliche und mühevolle Ausarbeitung des Urdoppelstaates nicht nur als wissenschaftliche, sondern auch als politische Aufgabe. Das Buch sollte die damals in Deutschland verbreiteten Illusionen über die Möglichkeiten einer jedenfalls teilweisen Erhaltung des herkömmlichen Rechtssystems bekämpfen. Es sollte den hinter der Aufrechterhaltung traditioneller Fassaden verborgenen wahren Charakter des Regimes entschleiern.
Im formalen Aufbau und in der Gliederung bildet der Urdoppelstaat von 1938 weitgehend die Vorlage für die als Bücher publizierten Fassungen des Dual State von 1941 und des Doppelstaates von 1974. Im Vergleich mit dem Doppelstaat von 1941/74 ist der Urdoppelstaat leidenschaftlicher, in den Formulierungen pointierter, in den Schlußfolgerungen zugespitzter. Man merkt der Urfassung noch deutlicher als den späteren Fassungen an, daß sie Fraenkel unter dem übermächtigen Druck der »bürokratisierten Rechtlosigkeit« niedergeschrieben hatte, wie er seine damaligen Lebensbedingungen in der Widmung des Doppelstaates an seine Frau Hanna Fraenkel, geb. Pickel, im Jahre 1974 charakterisierte.16 In der Sprache und der Begrifflichkeit des Urdoppelstaates schlägt sich noch mehr als in der Fassung von 1941/74 das Bemühen Fraenkels nieder, den Zeitgenossen die Augen über das Regime zu öffnen und einen eigenen Beitrag zum Widerstand gegen das Unrecht zu leisten.
Vor allem ist hervorzuheben: Der Urdoppelstaat von 1938 ist ein singuläres historisches Dokument. Er ist – was bisher in der Literatur nicht bemerkt wurde – die einzige innerhalb Deutschlands während der nationalsozialistischen Zeit ausgearbeitete umfassende kritische Analyse des Regimes.17 Nur Fraenkel selbst wies darauf hin, daß der Urdoppelstaat »die einzige wissenschaftliche Untersuchung ist, die in der ›inneren Emigration‹ entstanden ist«.18
Der Urdoppelstaat ist ein Beleg dafür, daß es bis 1938 in Deutschland möglich war, anhand der allgemein zugänglichen Informationen das nationalsozialistische Herrschaftssystem empirisch zu untersuchen und es in praktisch-politischer Absicht theoretisch zu analysieren. Der Urdoppelstaat zeigt, daß es auch unter den Bedingungen des Nationalsozialismus die Möglichkeit gab, auf rechts- und sozialwissenschaftlichem Gebiet unabhängig zu arbeiten. – Aber niemand außer Ernst Fraenkel schrieb ein vergleichbares Werk.
4. Der Dual State von 1941
Es gelang Fraenkel, das Manuskript des Urdoppelstaates von 1938 in französischem Diplomatengepäck aus Deutschland ins westliche Ausland bringen zu lassen. Nach seiner Flucht am 20. September 1938 aus Berlin in die USA arbeitete Fraenkel das Manuskript für eine englische Übersetzung um. Weil das Buch jetzt nicht mehr für deutsche Leser, sondern für die amerikanische und englische Öffentlichkeit bestimmt war, trat der Charakter einer wissenschaftlichen Analyse des nationalsozialistischen Herrschaftssystems stärker hervor. Viele Passagen wurden abgemildert oder ergänzt. Neue Gedankengänge wurden eingefügt, die dem angelsächsischen Leser das Verständnis erleichtern sollten. Um die englische Übersetzung des Begriffes Maßnahmenstaat in »Prerogative State« plausibel zu machen, fügte Fraenkel z. B. eine Abgrenzung zum Begriff der »Prerogative« bei John Locke ein19. Durch