rüffer&rub visionär / Jeder Tropfen zählt. Ernst Bromeis
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All diese Jahre in der Sportwelt, im Tourismus und in den Medien waren meine Lehrjahre. Bis im Herbst 2005 war mir nicht klar, wohin mein Weg führen wird. Die Jahre waren geprägt von innerer Unruhe. Es brodelte in mir. Für mich war schon immer klar, dass ich etwas Eigenes kreieren wollte: ein Projekt, an dem ich vielleicht ein Leben lang arbeiten und Erfüllung finden konnte; eine Vision, für die es sich zu leben lohnt. Dieser Anspruch, eine eigene Handschrift und auch Identität zu finden, ist eine Besessenheit. Es ist die Besessenheit des Künstlers oder der Künstlerin, die Kreativität bis zur Schmerzgrenze auszuleben. Leute, die mich aus den Medien kennen, sehen wohl einen Schwimmer, der versucht, von A nach B zu schwimmen, und dazwischen den Wasserbotschafter »spielt«. Für mich sind die Projekte, ob zu Wasser oder zu Land, Kunstinstallationen oder Performances. Sie sind im Augenblick Fragmente, die sich erst mit dem Ende meiner Lebenszeit hoffentlich zu einem Ganzen ordnen. Sodass »Das blaue Wunder« als gesamtes Kunstwerk wahrgenommen werden kann.
Prägend auf meinem Weg war eine Buchsequenz der Abenteuerlegende Reinhold Messner. Messner erwähnt im Zusammenhang mit einer Arktis-Expedition, dass er nicht schwimmen kann.3 Diese kleine Randnotiz wurde für mich zum Schlüssel der Quelle meiner Projekte. »Eu noud intuorn il muond!« – »Ich schwimme um die Welt!«, war mein erster Gedanke. Das ist es! So trete ich aus dem immer gleichen Fahrwasser, bin nicht im Kielwasser anderer unterwegs und lege eine eigene Spur um die Welt. Der Gedanke war eine Befreiung, denn ich hatte einen wortwörtlichen Weg gefunden, das gegen mich Gewandte nach außen zu drehen.
Von da an betrachtete ich die Welt anders. Ich suchte nach Wegen, wie ich mein Vorhaben realisieren konnte. Ich schlief nachts vor Aufregung nicht, studierte den Atlas auf der Suche nach globalen Wasserwegen. Die intensivste Zeit war in den Familienferien auf dem Hasliberg im Herbst 2005. Es waren Ferien ohne Internet, Smartphone und Fernsehen. Es regnete ununterbrochen, und wenn alle schliefen, stieg ich aus dem Bett und studierte Weltkarten. Ich hörte leise den Regen vor dem Fenster, fahles Licht fiel auf meine Wasserwege. Niemand wusste davon. Es war mein Geheimnis, mein Traum, meine Spinnerei.
Nach und nach wurde mir bewusst, dass in meiner Lebenssituation die Idee, die Welt zu umschwimmen, nicht umsetzbar war. Es würde jahrelange Abwesenheit von der Familie bedeuten. Wie sollte ich ein Einkommen generieren? Und wer sollte mich überhaupt bei diesem Wagnis unterstützen? Was würden Außenstehende darüber denken? Ich hörte bereits die Kritik. Doch die Idee eines solchen Schwimmprojekts hatte mich so eingenommen, dass ich nicht mehr loslassen konnte. Ausgehend von der Utopie wollte ich eine Vision finden, die ich realistisch umsetzen konnte.
Ich suchte nach Variationen und fand sie in Form der größten Süßwasserseen der Welt. Die höchsten Gipfel der Welt waren alle schon bestiegen. Doch die größten Seen der Welt sind für schwimmende Menschen noch zu entdecken: Baikalsee in Asien, Lake Victoria in Afrika, Titicacasee in Südamerika, die großen Seen in Nordamerika, kleinere Seen in Ozeanien und der Ladogasee nördlich von St. Petersburg als größter Süßwassersee Europas. Je mehr ich den Atlas studierte, umso mehr sah ich das Blau und nicht mehr das Land auf der Erde. Das ist mir bis heute geblieben. Wenn ich Geografiekarten anschaue, entdecke ich zuerst die Wasserlinien und Wasserflächen. Ich sehe die Welt wie auf einer Negativfotografie. Meine Orientierung hat sich seitdem um 180 Grad gewendet.
Die großen Seen, die »süßen Meere«, wie ich sie nenne, beschäftigten mich den ganzen Winter 2006/2007, bis mir im Frühling in Chur die zündende Idee kam. Ich trank meinen Kaffee wie immer ohne Zucker und betrachtete das Zuckersäckchen. Darauf war die Schweiz mit ihren Kantonen abgebildet – und ihre Seen. In diesem kleinen Maßstab war mein Kanton Graubünden ein weißer Fleck auf der Landkarte: kein Blau, kein See, kein Fluss. Eine Karte wie zu Zeiten der großen Eroberer, als die Welt noch aus weißen Flecken bestand. »Eu stögl cumanzar davant mia porta!« – »Ich muss vor meiner eigenen Haustüre beginnen!« Und so entstand während einer Tasse Kaffee in meinem Kopf die erste Reise. Die erste große Expedition – in meinen einheimischen Quellen.
Vielleicht ist es nicht logisch zu glauben, dass mein Weg vorbestimmt war. Logisch tönt zu mathematisch, zu rational. Vielleicht war mein Weg natürlich – selbstverständlich, so wie ein Rinnsal zum Bach, zum Fluss, zum Strom, zum See, zum Meer wird. Wer das Gleiche wie ich fühlt oder fühlte, weiß, wovon ich schreibe. Man hat die Wahl: Entweder man beerdigt seine Träume mit den Lebensjahren oder man entscheidet, »es zu tun«. Ich habe immer wieder die Stelleninserate in den Zeitungen durchforstet, doch nichts Passendes für mich gefunden. Eines Tages kam mir die Einsicht, dass es das auf mich passende Profil nicht gab. In der Konsequenz musste ich mein eigenes Profil aufsetzen und mich nur noch bewerben – auf meine eigene Stellenanzeige. Ich war die einzige Bewerbung und habe den Job erhalten. Mein Abenteuer »Das blaue Wunder« konnte beginnen.
Zwischen dem Gespräch mit meinem Vater am Bach bei Ardez, der Begegnung mit Gunther Frank in Basel am Rhein und den beruflichen Zwischenstationen lagen zwei Jahrzehnte. Intensive Jahre, in denen ich meinen Weg suchte. Die einzige Konstante in dieser Zeit war meine Freundin und spätere Frau Cornelia. Seit ich zwanzig bin, definieren wir immer wieder gemeinsame Ziele. Als ich ihr vom »Blauen Wunder« erzählte, war für sie klar, dass ich diesen Weg wählen würde. Für Cornelia war es konsequent, dass ich zu neuen Ufern aufbrechen würde.
»Wäre ich Beckenschwimmer gewesen, gäbe es mich als Expeditionsschwimmer nicht«
Die Olympischen Spielen oder die Tour de France als Höhepunkte des Spitzensports faszinierten mich als Kind und Jugendlichen. Nicht die mediale Welt, das Geld oder der Ruhm brachten mich zum Träumen, sondern die Schönheit der Athletik, gepaart mit der Härte und Besessenheit der Athletinnen und Athleten. Diese Faszination ist mir bis heute geblieben und war ein wichtiger Antrieb, dass ich den Weg des Sportstudiums und die Ausbildung zum Spitzensporttrainer gewählt hatte. Die Welt des Spitzensports konnte mich aber nicht aus- und erfüllen. Christof Gertsch, Schweizer Sportjournalist des Jahres 2014 und 2015, und ich sind der Frage nachgegangen, warum der Spitzensport mir nicht alles gab, und ich dem Weg des Wasserbotschafters folgte:
Christof Gertsch: Ist nicht alles, was es zu schwimmen gibt, längst geschwommen? Das kälteste Wasser, der längste Fluss, die stürmischste See: Mich dünkt, alles sei gemacht. | Ernst Bromeis: Das Gegenteil ist der Fall. Es gibt noch so viel zu schwimmen auf diesem Planeten. Aber es erstaunt mich nicht, dass Sie diesen Eindruck haben. Lewis Gordon Pugh, einer der bekanntesten Extremschwimmer der Welt, hat in einem »Forbes«-Interview gesagt: »We’ve hit all of the world’s major landmarks. There’s really nothing left.«
Er hat unrecht? | Ich sage nicht, dass Schwimmer wie Pugh nicht extreme Leistungen vollbringen. Aber das, was sie tun, ist für mich eben auch eine Art Zirkusschwimmen. Sie halten sich an diese Regeln, die sich meistens an jenen der Channel Swimming Association orientieren: die Größe der Badehose, das Begleitschiff, solche Vorgaben – aber sie denken nicht darüber hinaus. Ich halte die Open-Water-Szene für sehr konservativ. Diese blöden Rekorde, ein Kilometer bei eingrädigem Wasser, 500 Meter bei Minustemperaturen – das sind nur Variationen des immer Gleichen. Wenn wir uns nur an dem festhalten, was vorgegeben ist, bringen wir das Schwimmen nicht weiter. Was ich suche ist die Expedition und die Exploration, das heißt, das Erforschen meines Innern.
Wenn Sie sich der klassischen Messbarkeit und Vergleichbarkeit des Sports zu entziehen versuchen – sehen Sie sich dann vielleicht eher als Freestyle- denn als Extremschwimmer? | Das ist ein wichtiger Punkt. Schauen Sie sich nur die Alpinisten an. Die könnten sich ja zu zweit unten an eine Wand stellen und gegeneinander antreten, und schon hätten sie den direkten Vergleich. Das wäre Sport und medial sicher gut verwertbar. Aber sie machen es nicht. Sie wollen es nicht. Es ist für sie eine Frage des Stils. Ich verfolge einen ähnlichen Ansatz. Das absolut Messbare, Vergleichbare des Kletterns – das findet in den Hallen statt, an künstlichen Wänden, und eben nicht im Freien, nicht am Berg. Ich suche das Kompromisslose wie die