Muskelkater vom Leben. Winfried Thamm
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Nach zwei Stunden und fünfzehn Minuten werde ich aufgerufen. Mein Feind in Weiß gibt mir die Hand. Ich muss freundlich tun. Jetzt erläutert er mir seinen Einbruch noch einmal, der Sadist, in allen Einzelheiten, der Hund. Er nennt seinen Übergriff Ablation, das hört sich vornehmer an, klingt ein wenig nach Absolution, der Zyniker. Er wird in mein Innerstes einbrechen, in dem für ihn kein Platz ist, wird die Bewohner stören, die ich liebe, die mir ans Herz gewachsen sind.
Der freundliche Feind sagt, wenn er käme, werde ich gar nichts merken, werde ich gar nicht zu Hause sein, weil er mich auf eine Reise schicken werde. Aber das stimmt gar nicht. Ich werde mich schlafend stellen und mit einem halben Auge auf meine Lieben aufpassen, damit er ihnen nichts tut. Er soll nur das defekte Kabel suchen und stilllegen, sonst nichts. Er sagt „veröden“ dazu. Unverschämtheit, als hätte Ödnis Platz in meinem Herzen! In seinem vielleicht! Er schaut mich an, als habe er meine Gedanken lesen können und sagt: „Keine Bange, Herr T., ich schau nur nach dem Sinusknoten, nicht in Ihre Schubladen und bin in einer Stunde wieder weg. Versprochen.“
Jetzt muss ich lächeln, ob ich will oder nicht, und antworte: „Na, dann reparieren Sie mal schön. Und grüßen Sie meine Lieben von mir.“ Nach vier Stunden und dreißig Minuten werde ich in den OP geschoben. Gut Ding muss Weile haben.
Seniorenglück
Sie steht neben mir an der roten Ampel. Sie schaut herüber. Kurz. Lächelt nicht. Ist klar. Hab sie links überholt, bevor sie die Spur wechseln konnte. Jetzt muss sie gleich hinter mir links rüber wegen der parkenden Autos da vorne. Da dürfen die gar nicht stehen, zwischen vier und sechs, blockieren die rechte Spur jetzt in der Rushhour. Es gibt so wenig Rücksicht im Verkehr.
Hätte sie auch reinlassen können, in die Lücke, gentlemanlike, aber ich wollte nicht. Nicht sie. Sie, mit ihrem kleinen Ford KA, mit der Aufschrift „Seniorenglück – ambulante Pflegehilfe“. Das hat sie davon! Sie, die alte Leute tot pflegt, von einem zum nächsten rast, mit ihrem kleinen Auto. Treppe rauf, rein in die Wohnung, „Wie geht’s uns denn?“, Windel ab, mit dem Lappen drüber, Windel drum, Mund auf, Pillen rein, Schluck Wasser drauf, und immer schön viel trinken, schönen Tag auch, Oma Schulze.
Und jetzt guckt sie noch einmal rüber, mit ihrem Blick ohne Lächeln, der sagt: „Warte, nicht mehr lange, dann pflege ich auch dich!“
Sie mag Ende zwanzig sein, Anfang dreißig, höchstens. Sie, mit ihrer unverschämten Jugend, mit ihrer dreisten Gesundheit.
Letzte Woche hatte ich den letzten Arbeitstag meines Lebens. War schon komisch. Da bin ich ausgeschieden, letzte Woche, aus dem Rennen um Karriere, Macht und Ruhm. Hatte schon was erreicht in der Abteilung. Mit meiner Erfahrung, meinen Kenntnissen, meinen Kontakten. Hat ja auch der Direktor gesagt in seiner Rede, bei meinem Abschied. Die goldene Uhr gab es nicht. Das war früher mal. Jetzt beim Sparkurs gibt’s Blumen und ein Buch: „Mit Elan ins leichte Leben – ein Ratgeber für rüstige Rentner“. Der Blumenstrauß hielt nicht lange. Das Buch liegt auf dem Klo, gut gegen Verstopfung.
In den letzten Jahren lief ich eher außer Konkurrenz, war kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Bei dem Tempo, das angesagt war, wurde ich reihenweise überholt. Saus-die-braus, links wie rechts, von jungen, intelligenten und dynamischen Kindern, die alles wussten von Innovation, Management und Cashflow, aber noch die Tränen in den Augen hatten vom ersten Liebeskummer. Sie kämpften mit Ellenbogen, dabei hätte ich sie gerne auf den Arm genommen und ins Bett gebracht, vielleicht noch eine Geschichte vorgelesen, von dem, der auszog, um das Fürchten zu lernen. Sie wussten alles von Produktpositionierung und Finanzkalkulation, aber nichts vom Leben. Na ja, das ist ja jetzt vorbei für mich, Gott sei Dank.
Den Wagen kriegt mein Sohn Max. Aber vorher mache ich ein paar Spritztouren. Lange Jahre hatte ich die Idee im Kopf, aber nie die Zeit. Jetzt bin ich endlich aus der Tretmühle raus und kann mit meinem alten Benz noch einmal die geliebten Städte abfahren: Amsterdam, Prag, Berlin, Brügge, Dresden, Weimar, Den Haag und natürlich Paris. Die Städte, die ich mit ihr verbinde, mit meiner Lebensliebe. Alles hat ein Ende, nur der Mensch hat zwei: Das eine ist der Tod, das andere das Vergessen. Dich vergesse ich nie.
Das wird schön, so durch die Städte zu schlendern und an früher zu denken. Dann vielleicht noch mal ans Meer, vielleicht Paimpol in der Bretagne oder auch nur Katwijk in Holland. Mal sehen.
Dann kriegt Max das Auto, wird sich freuen, der Junge. Dann ist er weg, der Wagen. Der Lack noch wie neu.
Wo kommt plötzlich all die Traurigkeit her?
Sie ist schuld. Diese freche junge Göre in diesem Kinderauto mit der Aufschrift „Seniorenglück“. Du kriegst mich nicht! Wo ist sie eigentlich? Schon weg. Warum hupen die alle hinter mir? Ja, ich fahr ja schon.
Auf der Brücke am Kanal
Ja, er habe das Geld, sagte er, wie ich es denn wolle, ob er es mir überweisen solle, auf welches Konto denn?
Nein, meine Kontonummer kriegt der nicht, das ist mir zu viel Nähe zu ihm, dem Anwalt, dem Verwalter des Todes, das hätte er wohl gerne, meine Kontonummer. Mich schaudert’s bei dem Gedanken.
Ob ich denn jetzt Zeit hätte, dann könne ich es bei ihm abholen. Es liege bereit.
Ich stimme zu, schreibe mir die Adresse auf: Heßlerstraße 4, hoch im Norden der Stadt, denke ich, setze mich in meinen silbernen Peugeot 308 und fahre aus der Garage.
Es regnet. Für Februar zu warm. Das diesige Grau saugt jegliche Farbe aus der Welt. Schwarz-Weiß-Bilder mit roten Ampeln. Selbst das Grün ist grau.
Die Heckstraße ist Einbahnstraße, muss ich mich durch die kleinen Sträßchen der Werdener Altstadt zwängen, um auf die 224 zu kommen. Jetzt Richtung Norden und immer geradeaus.
Auf der Werdener Brücke, ein Blick auf die Brehminsel. Da haben wir oft gesessen, Heiner und ich und die andern, im Sommer mit Gitarren und Bier und Liedern der Großen der Zeit: Donovan, Dylan, Cat Stevens, Beatles, Stones, Doors … gesungen, gegrölt, geschmachtet und schließlich gelallt. Und immer die Diskussionen, ob das die Welt verändert, die Lieder, die Demos, die Petitionen, die Proteste, der Krawall.
Der Wind treibt den Regen über den Asphalt vor mir her, als wolle er nicht unter die Räder kommen, Wassertropfen klatschen auf die Windschutzscheibe, zerplatzen und sterben. Tote Tropfen fliehen seitlich von der Scheibe, als gäbe es noch Rettung. Der Totengräber im Nadelstreifenanzug hat es also geschafft, dass ich komme. Aber er kriegt mich nicht. Ich will nur das Geld, nicht seine Hilfe. Der Himmel trägt schwarzgrau, bleibt ansonsten kalt und reserviert, mit der professionellen Trauer eines Bestattungsunternehmers.
Den Werdener Berg hinauf, der nasse Asphalt spiegelt die entgegenkommenden Scheinwerfer. Durch Bredeney, wo die Reichen wohnen. In Werden auch, ich weiß. Bin ich einer von ihnen? Kenne meine Wurzeln. Auf der Straßenkarte geht es von unten nach oben, das Sozialgefälle läuft umgekehrt. Dann durch Rüttenscheid. Die Kneipenmeile der Schickimickis.
„Chic, chic, bon, bon, elegant Madame, alle Affen, die da gaffen, sagen olalà!“
Ich höre sie noch, als säße sie jetzt auf dem Beifahrersitz: Daggi, die Jüngste aus der Clique, so naiv wie langbeinig, starb an Malaria nach einem Afrika-Urlaub, mit siebenundzwanzig, wie Jimi Hendrix und Janis Joplin. War unsterblich verliebt in sie. Ja, du auch, Heiner, ich weiß. Hatten beide keine Schnitte. Der Silverback war dran, Harry, unser Bandleader.