Ecce Homo. Friedrich Nietzsche
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2.
Abgerechnet nämlich, daß ich ein décadent bin, bin ich auch dessen Gegensatz. Mein Beweis dafür ist, unter Anderem, daß ich instinktiv gegen die schlimmen Zustände immer die rechten Mittel wählte: während der décadent an sich immer die ihm nachtheiligen Mittel wählt. Als summa summarum war ich gesund, als Winkel, als Specialität war ich décadent. Jene Energie zur absoluten Vereinsamung und Herauslösung aus gewohnten [318] Verhältnissen, der Zwang gegen mich, mich nicht mehr besorgen, bedienen, beärzteln zu lassen – das verräth die unbedingte Instinkt-Gewißheit darüber, was damals vor Allem noth that. Ich nahm mich selbst in die Hand, ich machte mich selbst wieder gesund: die Bedingung dazu – jeder Physiologe wird das zugeben – ist, daß man im Grunde gesund ist. Ein typisch morbides Wesen kann nicht gesund werden, noch weniger sich selbst gesund machen; für einen typisch Gesunden kann umgekehrt Kranksein sogar ein energisches Stimulans zum Leben, zum Mehrleben sein. So in der That erscheint mir jetzt jene lange Krankheits-Zeit: ich entdeckte das Leben gleichsam neu, mich selber eingerechnet, ich schmeckte alle guten und selbst kleinen Dinge, wie sie Andre nicht leicht schmecken könnten, – ich machte aus meinem Willen zur Gesundheit, zum Leben, meine Philosophie ... Denn man gebe Acht darauf: die Jahre meiner niedrigsten Vitalität waren es, wo ich aufhörte, Pessimist zu sein: der Instinkt der Selbst-Wiederherstellung verbot mir eine Philosophie der Armuth und Entmuthigung ... Und woran erkennt man im Grunde die Wohlgerathenheit! Daß ein wohlgerathner Mensch unsern Sinnen wohlthut: daß er aus einem Holze geschnitzt ist, das hart, zart und wohlriechend zugleich ist. Ihm schmeckt nur, was ihm zuträglich ist; sein Gefallen, seine Lust hört auf, wo das Maaß des Zuträglichen überschritten wird. Er erräth Heilmittel gegen Schädigungen, er nützt schlimme Zufälle zu seinem Vortheil aus; was ihn nicht umbringt, macht ihn stärker. Er sammelt instinktiv aus Allem, was er sieht, hört, erlebt, seine Summe: er ist ein auswählendes Princip, er lässt Viel durchfallen. Er ist immer in seiner Gesellschaft, ob er mit Büchern, Menschen oder Landschaften verkehrt: er ehrt, indem er [319] wählt, indem er zulässt, indem er vertraut. Er reagirt auf alle Art Reize langsam, mit jener Langsamkeit, die eine lange Vorsicht und ein gewollter Stolz ihm angezüchtet haben, – er prüft den Reiz, der herankommt, er ist fern davon, ihm entgegenzugehn. Er glaubt weder an „Unglück", noch an „Schuld": er wird fertig, mit sich, mit Anderen, er weiß zu vergessen, – er ist stark genug, daß ihm Alles zum Besten gereichen muß. – Wohlan, ich bin das Gegenstück eines décadent: denn ich beschrieb eben mich.
3.
Diese doppelte Reihe von Erfahrung, diese Zugänglichkeit zu anscheinend getrennten Welten wiederholt sich in meiner Natur in jeder Hinsicht, – ich bin ein Doppelgänger, ich habe auch das „zweite“ Gesicht noch außer dem ersten. Und vielleicht auch noch das dritte … Schon meiner Abkunft nach ist mir ein Blick erlaubt jenseits bloß lokal, national bedingter Perspektiven, es kostet mich keine Mühe, ein „guter Europäer“ zu sein. Andererseits bin ich vielleicht mehr deutsch, als jetzige Deutsche, bloße Reichsdeutsche es noch zu sein vermöchten, – ich, der letzte antipolitische Deutsche. Und doch waren meine Vorfahren polnische Edelleute: ich habe von daher viel Rassen-Instinkte im Leibe, wer weiß? Zuletzt gar noch das liberum veto. Denke ich daran, wie oft ich unterwegs als Pole angeredet werde und von Polen selbst, wie selten man mich für einen Deutschen nimmt, so könnte es scheinen, dass ich nur zu den angesprenkelten Deutschen gehörte. Aber meine Mutter, Franziska Dehler, ist jedenfalls etwas sehr Deutsches; insgleichen meine Großmutter väterlicher Seits, [320] Erdmuthe Krause. Letztere lebte ihre ganze Jugend mitten im guten alten Weimar, nicht ohne Zusammenhang mit dem Goethe’schen Kreise. Ihr Bruder, der Professor der Theologie Krause in Königsberg, wurde nach Herder’s Tode als Generalsuperintendent nach Weimar berufen. Es ist nicht unmöglich, dass ihre Mutter, meine Urgroßmutter, unter dem Namen „Muthgen“ im Tagebuch des jungen Goethe vorkommt. Sie verheirathete sich zum zweiten Mal mit dem Superintendenten Nietzsche in Eilenburg; an dem Tage des großen Kriegsjahrs 1813, wo Napoleon mit seinem Generalstab in Eilenburg einzog, am 10. Oktober, hatte sie ihre Niederkunft. Sie war, als Sächsin, eine große Verehrerin Napoleon’s.; es könnte sein, dass ich’s auch noch bin. Mein Vater, 1813 geboren, starb 1849. Ich lebte, bevor er das Pfarramt der Gemeinde Röcken unweite Lützen übernahm, einige Jahre auf dem Altenburger Schlosse und unterrichtete die vier Prinzessinnen daselbst. Seine Schülerinnen sind die Königin von Hannover, die Großfürstin Constantin, die Großherzogin von Oldenburg und die Prinzeß Therese von Sachsen-Altenburg. Er war voll tiefer Pietät gegen den preußischen König Friedrich Wilhelm den Vierten, von dem er auch sein Pfarramt erhielt; die Ereignisse von 1848 betrübten ihn über die Maaßen. Ich selber, am Geburtstage des genannten Königs geboren, am 15. Oktober, erhielt, wie billig, die Hohenzollern-Namen Friedrich-Wilhelm. Einen Vortheil hatte jedenfalls die Wahl dieses Tages: mein Geburtstag war meine ganze Kindheit hindurch ein Festtag. – Ich betrachte es als ein großes Vorrecht, einen solchen Vater gehabt zu haben: es scheint mir sogar, dass sich damit Alles erklärt, was ich sonst an Vorrechten habe, – das Leben, das große Ja zum Leben nicht eingerechnet, Vor Allem, dass es für mich [321]