Eros und die Evangelien, aus den Notizen eines Vagabunden. Waldemar Bonsels
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Waldemar Bonsels
Eros und die Evangelien, aus den Notizen eines Vagabunden
Veröffentlicht im Good Press Verlag, 2021
EAN 4064066110208
Inhaltsverzeichnis
67. bis 90. Tausend
1922
Verlag der Literarischen Anstalt
Rütten & Loening
Frankfurt a. M.
Alle Rechte, besonders das der Übersetzung, vorbehalten.
Copyright 1920 by Literarische Anstalt Rütten & Loening, Frankfurt a. M.
Die Einbandzeichnung ist von Walter Tiemann.
Druck der Spamerschen Buchdruckerei in Leipzig.
Die holländische Ausgabe im Verlag »Patria«, Amersfort.
Kapitelfolge
Seite | |
Der Tod | 7 |
Das Meer | 109 |
Erstes Kapitel
Der Tod
Eines Morgens machte ich die Entdeckung, daß sich am Deckleder eines meiner Stiefel eine Naht zu lösen begann, so daß eine Spalte klaffte, wenn ich den Fuß streckte. Es setzte mich in Erstaunen, da meine Stiefel, mit Ausnahme der Sohlen, eigentlich noch in einem recht brauchbaren Zustand waren, zumal, wenn man nicht absichtlich den Blick auf die Absätze richtete, die nicht mehr ganz grade aussahen. Da ich damals eine für meine Verhältnisse und Ansprüche angesehene Stellung in einer Buchdruckerei bekleidete, mußte ich Wert auf meine äußere Erscheinung legen und begab mich deshalb zu einem Schuhmacher, der Stevenhagen hieß und in der Nähe meiner Behausung auf einem Hofe wohnte.
Er war, wie alle Schuhmacher, ein Mann von Nachdenklichkeit und Bildung, besonders für die erste seiner Eigenschaften gaben meine Stiefel ihm Gelegenheit. Er hielt sie mit einer Unnachsichtigkeit ans Licht, die etwas Rohes an sich hatte, und sah mich dann mit einem Ernst an, der meiner Meinung nach in keinem Verhältnis zur Bedeutung des vorliegenden Falls stand.
»Es handelt sich vorläufig nur um die Naht, ich springe nur eben so auf meinem Weg zu Ihnen herein« sagte ich.
»So,« antwortete er mit genauer Beachtung meiner Worte, »lange werden Sie auf diesen Stiefeln nicht mehr springen.«
Der Mann war ohne Takt, er sprach nur zur Sache, ohne in Betracht zu ziehen, daß zu dieser Sache auch eine Person gehörte. Zudem kostete er die zufällige Überlegenheit, die die Lage ihm einbrachte, zu auffällig aus. Ich hätte auch vielleicht besser daran getan, nichts davon zu sagen, daß ich nur auf einen Sprung zu ihm gekommen sei. Wenn ich die Stiefel mürrisch und wortlos hingehalten, ins Zimmer gespuckt und geflucht hätte, so wäre ihm von mir und meinen Stiefeln ein Gesamtbild entstanden, das er besser überblickt und ohne inneren Widerstand hingenommen hätte. Offenbar war er jetzt der Meinung, daß ich beabsichtigt hatte, mehr zu scheinen, als ich war, daß ich gewissermaßen den schlimmen Zustand meiner Bekleidung als zufällig hinzustellen beabsichtigte, und mich für etwas besseres hielt, als andere Leute mit zerschlissenen Stiefeln.
Ich dachte, am besten ist es, man spricht offen mit dem Mann über diese Dinge, und ich hätte es sicher getan, wenn draußen nicht der Regen vom grauen Himmel geströmt wäre. Die eintönige Pflicht meines Tages lag mir schwer im Sinn. Der Sommer ging zur Neige und die ratlose Trauer über mein Geschick und meine Zukunft quälte mich. Welch eine Kluft gähnte zwischen meinen Erwartungen und den Aussichten, die sich mir boten, ich lebte Tag um Tag nur von meiner Hoffnung, sie war mein Brot. Solche Leute sind vom Sonnenschein abhängig, wer dagegen weiß, was er zu tun hat, tut es auch im Regen, und ein Ziel läßt sich selbst im Sturm verfolgen, aber die Hoffnung hängt vom Licht und von der Wärme ab, wie ein Keim in der Erde.
Ich fühlte, während die Geräte des Handwerkers erklangen, die Unruhe mit ihrem tödlichen Nachbarn, dem Hang zu zerstören, in mir wachsen. So erhob ich mich von meinem Sitz auf der Fensterbank und schritt auf Strümpfen durch die angelegte Tür auf den Hausflur hinaus, nur um mich zu bewegen, in meinem hilflosen Ungenügen. Die Stube des Schuhmachers lag zu ebener Erde, ein finsterer Gang führte weiter in das eng und dürftig gebaute Hinterhaus hinein, rechts und links waren Türen und am Ende eine Treppe, auf der es zum ersten Stockwerk emporging. Da vernahm ich in der Dämmerung ein hoffnungsloses Weinen, es wurde durch kein Schluchzen unterbrochen, es klang wie ein öder, stiller Gesang. Unter diesen Lauten, die mich festhielten, wo ich stand, brach in meiner Brust eine Quelle auf und mir war, als sei ihre Leere, an der ich eben noch gelitten hatte, ausgefüllt wie durch eine jähe Begünstigung. Es wurde mir warm und ich empfand Dankbarkeit, ohne daß ich mir darüber klar zu werden vermochte, wie dies geschah, aber wie im Gehorsam gegen einen inneren Befehl, öffnete ich die Tür, hinter der die Stimme zu klagen schien, und trat in ein niedriges Zimmer ein, in dem eine Frau an einem Herd vor dem erlöschenden Feuer kniete und dicht am Fenster ein Bett stand, in dem ein Mädchen schlief. Aber es war alles still im Raum.
Von den nur leicht verhangenen Scheiben fiel der glanzlose Tagesschein, eine stille Lichtdecke, auf das Gesicht der Ruhenden, das weiß und unwirklich schimmernd in das lose Haar eingebettet lag, das schwarz wie Kohle war. Die Arme waren zur Rechten und zur Linken an den Körper angelegt, der sich unter der leichten Decke abhob, grade gebettet wie bei einer Toten. Aber die Ruhende lebte, denn ich sah, wie ihre Brust sich unter ihren Atemzügen hob und senkte, aber ich erkannte zugleich, daß sie krank war und an der Grenze ihres Lebens stand. Ich sagte zu der Frau, die sich langsam aufrichtete und mich wortlos ansah:
»Wenn Sie erlauben, werde ich Sie besuchen.«
Die Frau gab mir zögernd die Hand, nickte langsam und schob mir einen Stuhl hin, den sie mit ihrer Schürze abwischte.
»Schickt Sie jemand zu uns?«