Der Serienmörder von Paris. David King
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Maurice erinnerte sich daran, dass sein Bruder – eventuell war es auch Georgette gewesen – irgendwann, möglicherweise 1942, über den Erwerb einer neuen Immobilie in Paris geredet hatte. Er versuchte Massu mit aller Überzeugungskraft zu vermitteln, dass sich seine Informationen zu dem Thema darauf beschränkten. „Ich wusste nicht, in welcher Straße das Haus lag, und bin niemals dort gewesen.“
Als der Kommissar ihn unter Druck setzte, änderte Maurice die Aussage. Ja, er kenne die Adresse und sei dort tatsächlich drei oder vier Mal gewesen. Im Juli oder August habe er die von Ungeziefer befallenen Möbel und Teppiche mit Schädlingsbekämpfungsmittel behandelt, wenige Monate darauf, wahrscheinlich im Dezember 1943, dann das Wasser abgestellt, da die Leitung durch den plötzlichen Wintereinbruch geborsten war. Im Jahre 1944 besichtigte er das Haus mit einem Architekten das angeblich letzte Mal, um mögliche Risse zu entdecken, da in ein benachbartes Gebäude Feuchtigkeit eindrang.
Die Frage, ob das alles sei, was er über das Stadthaus wisse, beantwortete er mit einem Ja. Massu sollte schon bald einen guten Grund haben, diese Aussage mit Skepsis zu bewerten.
MEIN MANN SCHENKTE MIR EINE ROSETTE-HALSKETTE, EINEN SOLITÄR-RING MIT EINEM FÜNFKARÄTER, SOWEIT ICH MICH ERINNERN KANN … UND EIN AUS GOLD GEFERTIGTES KREUZ.
(Georgette Petiot)
Zu den Schwierigkeiten, denen die Menschen in Paris angesichts des Mangels an Nahrungsmitteln und Treibstoff ausgesetzt waren, kamen noch die Ausgangssperre, das Verdunklungsgebot, die heulenden Luftschutzsirenen und die ständig zunehmende Gefahr, bei den Deutschen denunziert zu werden, hinzu. „Paris ist vor die Hunde gegangen“, meinte Jean-Paul Sartre. Er verglich die besetzte Stadt mit „leeren Weinflaschen, die im Schaufenster eines Geschäfts standen, das keinen echten Wein mehr anbot“.
Als Reflex auf die missliche Lage galt von nun an für viele Pariser das sogenannte „Système D“, ein landläufiger Begriff für die „Do-It-Yourself“-Mentalität. Die mageren Ressourcen mussten so weit wie möglich gestreckt und mit eigentlich inakzeptablen Substituten ergänzt werden. Kaffee wurde aus Chicorée, Kichererbsen und Eicheln gebraut. Zur Herstellung von Tee behalf man sich mit Apfelschalen und Milch, zu der man verdünnte Magermilch gab. Zigaretten drehte man mit Papier aus Jerusalemartischocken oder Brennnesseln, und von Tomaten zog man nach dem Kochen die Haut ab, um sie länger haltbar zu machen. Zum Abendessen stand häufig dünne Lauchsuppe auf dem Tisch, ergänzt durch ganz neue „Lieblingsgerichte“ wie Steckrüben, die man früher nur als „Kuhfutter“ gekannt hatte. Um dem faden Nachtisch ein wenig Geschmack zu verleihen, reichte man Kastanien, die sehr teuer und schwer zu bekommen waren.
Möhren, Bohnen und verschiedene Gemüsesorten baute man in Blumenkästen auf den Fenstersimsen, auf Dächern und großen öffentlichen Flächen wie den Tuilerien, dem Jardin du Luxembourg und der Esplanade des Invalides an. Kaninchen und Hühner wurden auf Balkonen oder in Besenschränken gezüchtet. Mit den Jahren waren so gut wie keine Tauben mehr in den öffentlichen Parkanlagen zu sehen. Der Präfekt von Paris warnte vor möglichen gesundheitlichen Folgen beim Verzehr von „Katzenbraten“. Während der Besatzung durch die Nazis konsumierten Männer und Frauen nur die Hälfte der Kalorien verglichen mit der Zeit der Wirtschaftkrise in den Jahren 1935 bis 1938. Es ist gut möglich, dass den Franzosen im Vergleich zu den anderen Europäern die wenigsten Lebensmittel zur Verfügung standen.
Im März 1944, als der Winter endlich den Frühling einziehen ließ, beobachtete Massu „das Ballett der Knospen“ auf den Quais, in den Parks und auf den Fenstersimsen. Doch er hatte leider nicht genügend Zeit, das prächtige Spiel der Farben zu genießen. Endlose Sitzungen mit den Leitern der verschiedenen Abteilungen und obersten Ermittlern bestimmten sein Leben. Wie Massu witzelnd bemerkte, wirkte das auf ihn wie ein Ministerrat. „Ich habe dieses Gequassel niemals gemocht. Das ist reine Zeitverschwendung“, ärgerte er sich. Bei den Treffen kam er oft spät, verließ sie früh und schaute ungeduldig auf die Uhr, denn er war voll und ganz mit dem Petiot-Fall beschäftigt.
Nachdem sich Madame Petiot in Massus Büro von ihrer Ohnmacht bzw. fingierten Ohnmacht erholt hatte, bot ihr der Kommissar an, sie zur Wohnung im zweiten Stock der Rue Caumartin zu begleiten. Massu ging als Erster aus dem Büro und wurde von einer Horde Reporter und Fotografen empfangen. Es hagelte förmlich Fragen. „Hat sie gestanden?“, schrie ein Journalist. „Half sie dabei, die Leichen zu entsorgen?“, fragte ein weiterer. „Verhalf sie ihrem Mann zur Flucht?“
„Aber meine Herren“, versuchte Massu die aufgeregte Stimmung zu beschwichtigen. „Mein Sekretär wird Ihnen die Fragen beantworten.“ Als die Meute zum anderen Büro rannte, um nichts von der Pressemitteilung zu verpassen (und wahrscheinlich schon über eine sensationsheischende Schlagzeile nachdachte), flüchtete Massu zusammen mit Madame Petiot den Flur hinunter und schlüpfte in einen Wagen, der schon am Quai wartete.
In der nur wenige Kilometer entfernt gelegenen Rue Caumartin standen ungefähr 100 Schaulustige dicht gedrängt auf den Bürgersteigen und der Straße. Auch hier geiferten Reporter und Fotografen nach einer Story. „Diese Kerle vermehren sich wie die Fliegen“, kommentierte Massus Chauffeur das Phänomen. Man hatte sogar schon eine Fernsehkamera aufgebaut, um die Ankunft auf Zelluloid zu bannen.
„Mörder!“ Georgette schrie beim Versuch, sich mit Massu zum Appartement vorzukämpfen, um sich. „Ihr seid die Täter! Ihr giert danach, mich leiden zu sehen!“ Sie sei nur nach Yonne gereist, um ihren Sohn zu sehen, brüllte die verstörte Frau der Menge entgegen.
Nachdem ein von den Beamten beauftragter Schlosser die seit der Durchsuchung verschlossene Tür geöffnet hatte, betraten Massu, Petiot und ein Ermittlerteam die Wohnung. Während die Beamten die Räumlichkeiten erneut durchsuchten, setzte sich Petiot in einen gemütlichen Sessel im Wohnzimmer, das durch alte chinesische Vasen, feinstes Porzellan und edle Wandteppiche Luxus widerspiegelte. Der Kommissar setzte das Verhör fort. „Wie haben Sie hier gelebt?“
„Als gute Bürger der Mittelschicht, die wir nun mal sind“, erwiderte sie in einem wütenden Tonfall, was sich nach Massus Empfinden aber teilweise noch auf die Begegnung mit der feindseligen Presse zurückführen ließ. „Wir haben oft das Theater besucht und sind ins Kino gegangen. Das ist doch, so viel ich weiß, nicht verboten, oder?“ Massu fragte, ob ihr Mann häufig frei hatte. „Offensichtlich“, antwortete sie, obwohl er oft mitten bei einer Vorstellung den Saal verlassen musste.
„Hat er gesagt, wohin er ging?“
„Natürlich zu seinen Patienten.“
„Waren Sie nicht über all die Juwelen und das feine Leinen erstaunt, die Ihr Mann in seinem Fahrradanhänger mitbrachte?“
„Manchmal.“
„Hat er das erklärt?“
„Ja, er erwarb die Güter auf legale Art.“ Sie erzählte von den Käufen bei Drouot, Frankreichs ältestem und bekanntestem Auktionshaus, das 1852 von Napoleon III. gegründet worden war und nur wenige Fußminuten von Petiots Appartement entfernt lag. Sowohl die Auktionatoren