Deep Purple. Jürgen Roth
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Außerhalb der Londoner Vorstädte registriert man das grelle Getue mit Befremdung. Zwar konsumieren die Hippies in den USA mindestens ebenso viele hirnaktive Chemikalien, aber ihre Ziele sind größtenteils weltlicher Natur. Abgesehen von Timothy Learys Anhängern, die mit einem gewaltigen Trip das gesamte Universum durch ein neues ersetzen möchten, beschränken sie sich auf die Beendigung des Vietnamkriegs (damit sie nicht selbst hinmüssen) und die generelle Kostenfreiheit des Lebens, das man am liebsten kommunal mit ekstatischem Moppeln in leerstehenden Häusern und auf beschallten Äckern verbringen möchte. Weltall, Hobbits und anderer Phantasietand bleiben den „Pranksters“, den Yippies und Diggers so fremd wie einem Großteil der frischkostümierten britischen Secondhand-Darsteller.
Noch schlimmer sind die Deutschen dran. Im Land der aufmüpfig werdenden Studenten versteht man noch nicht einmal wörtlich, worauf die psychedelischen Barden hinauswollen, spürt aber, daß da ein feiner Treibstoff für klassenkampfsubstituierende „Generationskonflikte“ schlummert, den man auch prima zur (erst später so genannten) „Selbstverwirklichung“ und zur Abgrenzung vom schlagerschunddominierten Spießbürgermilieu nutzen kann. Aber wie soll das gehen, wenn man nicht mitbekommt, um was es geht, und die verworrenen Soundklügeleien auch nur unter größter Mühe und Einsatz höchster Kontingente von Selbstbeherrschung und Friedfertigkeit überhaupt durchstehen kann?
Doch spielen solche Konsequenzkalamitäten vorläufig noch keine Rolle. Man flippt aus, und wer im Musikgeschäft einen Fuß auf den Boden kriegen will, tut gut daran, mindestens noch ein kleines Stück mehr auszuflippen als alle anderen.
Ein entscheidender Faktor in Chris Curtis’ Phantasieband-Welteroberungsplänen ist ein Wundergitarrist, von dem zu schwärmen er nicht müde wird. Jon Lord, der die Meinung vertritt, psychedelische Wunderprojekte seien nur zukunfts- und alltagstauglich, wenn sie von einem Fundament aus handwerklicher Solidität – besser noch: Brillanz – getragen werden, ist in diesem Punkt besonders hellhörig; denn, sagen wir’s, wie’s ist: Die Schwurbeleien gehen ihm am Arsch vorbei. Was zählt, ist die Musik. Aber wer ist dieser sagenhafte Ritchie Blackmore, den Curtis auf jeden Fall bei Roundabout dabeihaben möchte und von dem er behauptet, er liebe Hamburg so sehr, daß ihn nur ein einziger Mensch (Curtis selbst) von dort weglocken könnte?
Er fragt in seinem Bekanntenkreis herum, erntet viel Schulterzucken und Kopfschütteln, vage Andeutungen und immerhin eine Auskunft: Flowerpot-Men-Bassist Nick Simper kennt den Unbekannten nicht nur, er verehrt ihn geradezu. Früher, sagt er, kannte den jeder, damals, als er mit Mike Dee im Southall Community Center aufgetreten ist, einfach weil er so schnell spielte, so verblüffend schnell. Beide spielten jeweils eine Zeitlang bei Screaming Lord Sutch. Zuletzt hat ihn Nick in Hamburg getroffen. Da wollten sie sogar gemeinsam eine Band gründen – Nick sollte Baß spielen und singen, holte sich dann aber eine hartnäckige Halsentzündung und kehrte nach London zurück. Wenn es Lord und Curtis tatsächlich gelänge, diesen Mann, der nun wohl immer noch in Hamburg sitze, für das Projekt zu begeistern, dann könnte er, Simper, daran auch mehr als ein kleines bißchen interessiert sein …
Und wer ist dieser Blackmore nun tatsächlich? Geboren ist er, Richard Harold, am 14. April 1945 in Weston-super-Mare, einer bestenfalls unaufgeregten Kleinstadt einhundertsechzig Kilometer westlich von London – dort, wo der Severn in den Bristolkanal fließt und wo auch der von Ritchie später sehr bewunderte John Cleese von Monty Python herstammt. Am anderen Ufer beginnt Wales, da liegt die Hauptstadt Cardiff, außer Bristol die einzige größere Stadt im Umkreis von fünfzig Kilometern. Als Richard zwei war, packten seine Eltern die Koffer und zogen in die Vorstadt Heston, westlich vom Londoner Zentrum (und keine fünf Minuten von Jimmy Pages Elternhaus entfernt, was vorläufig noch keine Rolle spielte). Papa Lewis ging arbeiten, Mama Violet hütete das Haus; Ritchie verlebte eine etwas ärmliche, aber zumindest materiell sorglose Kindheit. Er besuchte die Heston Senior High School und war ein, wie man so sagt, „mittelmäßiger“ Schüler – was heißt: Wenn es sich gar nicht vermeiden ließ, besuchte er schon mal den Unterricht, aber Hausaufgaben und Lernziele interessierten ihn so sehr wie die Schuhgrößen mongolischer Politbüromitglieder. In Leibeserziehung immerhin hatte Richard seine Stärken: „Ich war der Schulchampion im Speerwerfen und bald auch der Beste in London und Middlesex. Mit dreizehn wollte ich englischer Meister werden und zu den Olympischen Spielen, aber ich war zu jung.“ Und auch wenn es um Fußball ging, war er dabei.
Aber sein soziales Verhalten nährte erzieherische Sorgen: Er war verschlossen bis verstockt, schüchtern wie ein Reh am Tag, undurchschaubar selbst für die Eltern, eigenbrötlerisch, sarkastisch, stur, frühreif und erfüllt von einem diffusen Zorn, der sein Alter weit überragte. „Ich fühlte mich von allen verarscht“, meint er rückblickend. „Ich habe mich nicht angestrengt, und ich fühlte mich nicht akzeptiert. Das war irgendwie auch gut, weil ich mich dann immer wieder hinter irgendwas geklemmt habe, um denen zu zeigen, daß ich auch zu etwas fähig bin. Das war die Motivation: den Leuten zu beweisen, daß ich was wert bin und nicht irgendein Idiot.“ Freude machte ihm wenig, am meisten ein gelungener Streich; die boshafte Energie hinter seinen „practical jokes“ war Eltern wie Lehrern ein Rätsel. Was in ihm brannte, war der regelrecht unbedingte Wille, mehr zu sein, als er ist und sein soll, und verdienen sollte es ihm die Kunst.
Im britischen Fernsehen liefen Mitte der fünfziger Jahre die ersten Popshows, in denen der kleine Ritchie Leute sah, die in der Tat mehr waren, als sie waren. Einer davon war Tommy Steele, der erste „eingeborene“ britische Rock’n’Roller. Was der in der Samstagabendshow Six Five Special anstellte, raubte Ritchie den Atem: „Ich wollte so rumhüpfen wie Tommy Steele. Ich dachte: Der geht einfach auf die Bühne und amüsiert sich – das will ich auch!“ Zufällig besaß sein Schulfreund Victor Hare eine Gitarre, und Ritchie lieh sich das Ding aus. „Ich stand da und schlug in die Saiten“, berichtete er später, „und konnte überhaupt nichts spielen, aber es sah einfach gut aus. Dieses Instrument, dachte ich, muß ich lernen.“
Und schon hatte die Hestoner Schule ihre eigene Band: The 2 i’s Coffee Bar Junior Skiffle Group, derart ungelenk benamst nach einem bevorzugten Abendtreffpunkt für Londons echte Rock’n’Roller in der Old Compton Street (wobei es zur Juniorabteilung auch noch eine Oberstufenband gab). Mit Hare an der Gitarre, Ritchie am „Baß“ (einer Teekiste mit einem Besenstiel und einer Schnur als Saite), ein paar Trällermädels und der skiffleüblichen Perkussionsabteilung aus Snare Drum und Waschbrett (auf dem man mit Fingerhüten herumschrappt) imitierte die Schülercombo aktuelle Hits von Lonnie Donegan, so gut es ging: „Wir waren