Das halbe Grundeinkommen. Philipp Hacker-Walton

Чтение книги онлайн.

Читать онлайн книгу Das halbe Grundeinkommen - Philipp Hacker-Walton страница 5

Das halbe Grundeinkommen - Philipp Hacker-Walton

Скачать книгу

bei der Ablehnung von offenen Stellen erweisen sich angesichts der gigantischen Dimensionen der Arbeitslosigkeit nur mehr als punktuelle Versuche, die Idee einer fordernden und strafenden Gerechtigkeit in der Arbeitsvermittlung am Leben zu erhalten. Wenn politische Akteure heute nach strengeren Zumutbarkeitsbestimmungen für die Arbeitssuche rufen,32 dann verhallt das nur noch wie der ewige Gleichklang einer Beschwörung, es müsse doch endlich ein Weg gefunden werden, Arbeitslose zu zwingen, das zu wollen, was sie nicht mehr wollen können und was auch der Großteil der (noch) nicht Betroffenen für sich keinesfalls wollen würde.33 Es ist nicht verwunderlich, dass anlässlich solcher Aufrufe sogar in der tagespolitischen Debatte immer öfter verlangt wird, man möge doch „endlich Ideen und kreative Konzepte“ einbringen34.

      28So wie der Philosoph Peter Bieri in seinem Vortrag an der Pädagogischen Hochschule in Bern am 4. November 2005 mit dem Titel „Wie wäre es, gebildet zu sein?“ meinte: Bildung „… ist (auch) ein Sinn für Genauigkeit: ein Verständnis davon, was es heißt, etwas genau zu kennen und zu verstehen: ein Gestein, ein Gedicht, eine Krankheit, eine Symphonie, ein Rechtssystem, eine politische Bewegung, ein Spiel. Es gibt niemanden, der mehr als nur einen winzigen Ausschnitt der Welt genau kennt“

      29Denn: Georg Grund-Groiss arbeitet seit 26 Jahren beim österreichischen Arbeitsmarktservice und hat dort seine berufliche Berufung gefunden. Philipp Hacker-Walton berichtet als Journalist seit vielen Jahren kundig und wohlwollend-kritisch über die österreichische Arbeitsmarktpolitik, so ist sie ihm auch ans Herz gewachsen.

      30Man könnte es auch als eine transzendentale Bedingung jeder Reformidee verstehen, dass es keinen Start „from nowhere“ gibt.

      31Jürgen Habermas: Auch eine Geschichte der Philosophie. Band 1. Berlin 2019, S. 136.

      32Wie z. B. der Präsident der österreichischen Wirtschaftskammer am 11. 9. 2020: Arbeitslose müssten per Sanktionsdruck dazu angehalten werden, weiter als bislang verlangt zu pendeln oder auch dorthin zu übersiedeln, wo es noch offene Stellen gibt.

      33Das erinnert an den „Urzustand“, wie ihn John Rawls, der wichtigste Philosoph der Gerechtigkeit im 20. Jahrhundert, in seiner „Theorie der Gerechtigkeit“, Frankfurt 1975, beschrieben hat: Wenn wir völlig unparteilich wären, hinter einem „Schleier des Nichtwissens“ unseres Standes und unserer Interessen die Regeln festlegen müssten, würden wir viele Zumutbarkeitsbestimmungen für Arbeitslose wohl nicht mehr akzeptieren.

      34So z. B. im „Standard“ am 11. 9. 2020 gefordert von Redakteur András Szigetvari.

       Systemkrise – jetzt aber wirklich

       Der Regen des Strukturwandels gehört seit jeher zum Wetter wie die Wartung des Daches zu den Aufgaben des Hausbesitzers. Im Wolkenbruch der Corona-Krise strömt das Wasser jetzt über viele Traufen. Das Dach bedarf einer Neukonstruktion.

      Unsere Arbeitsmarktpolitik stammt „aus dem Land, das lange zögert, eh es untergeht“.

      Das österreichische Arbeitslosenversicherungsgesetz trat im Jahr 1920 in Kraft und wurde 1949 neu erlassen. Trotz unzähliger Novellen sind die grundlegenden Elemente seit 101 Jahren unverändert. Das Arbeitsmarktservicegesetz ist seit 1994 in Kraft. Es enthält viele Elemente der aktiven Arbeitsmarktpolitik, die im Arbeitsmarktförderungsgesetz des Jahres 1968 grundgelegt sind. Das „Fördern“ wurde 1968 politisch-ethisch in den Blick genommen und mit konkreten Instrumenten versehen. Das Prinzip des „Forderns“ gilt seit 1920.

      Die lange Geschichte zeigt: Es ist ein gutes Land und es zögert aus guten Gründen. Aber die Zeit will, dass es langsam untergeht, indem es sich wandelt.

      Seit mehr als zehn Jahren bestimmen die immergleichen Sorgen den gesellschaftlichen Gedankenaustausch über den Arbeitsmarkt: Das lebenslange Normalarbeitsverhältnis ist zur Ausnahme von der einst selbstverständlichen Regel geworden. Befristete Beschäftigung, Zeitarbeit, unfreiwillige Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigung, Scheinselbstständigkeit, Zero-hour-contracts35 und Gig-Economy, in der kleine Aufträge kurzfristig in Mini-Werkverträgen vergeben werden, führen zur Zerfransung der Lebenswelten und zur Erschütterung der sozialen Sicherheit von immer mehr Arbeitskräften.

      Reform der Arbeitsmarktpolitik? Fehlanzeige.

      Auch wo die Höherqualifizierung der Arbeitskräfte, ihre zunehmende Selbstorganisation und Selbstverantwortung – als „Unternehmer ihrer eigenen Arbeitskraft“ – oder die wachsenden Chancen und Notwendigkeiten, in der Erwerbsarbeit kreativ zu sein, als positive Zukunftsbilder „gehypt“ werden,36 flackert die Flamme der Aufbruchsstimmung recht unsicher. Denn die Propheten einer schönen neuen Arbeitswelt wissen selber, dass die Wirklichkeit auf sehr vielen „hochmodernen“ Arbeitsplätzen eher von Gegentendenzen geprägt ist: Standardisierung, Vereinfachung oder Fremdsteuerung durch digitale Maschinen.37 Geht es insgesamt nicht eher in die Richtung einer Zunahme innovationsgetriebener Ausbeutung und Entfremdung?

      Das gilt nicht nur für angelernte Arbeiten. Selbst Absolventen von technischen Fachhochschulstudien, die in Betrieben arbeiten, in denen Hightechprodukte entstehen, erleben immer öfter eine Fallhöhe zwischen ihrem erworbenen Wissen und der Wissensanwendung in der täglichen Praxis, die die berufliche Motivation zu zerschmettern droht. Sie gehören zwar vermutlich zu den ganz wenigen, die annähernd verstehen, wie die Elektronen zielgerichtet zum Tanzen gebracht werden können. Und doch besteht ihre Arbeit über weite Strecken in nicht viel mehr, als den selbstlernenden Steuerungseinheiten regelmäßig per Signaleingabe zu beteuern, dass alles in Ordnung ist, und so zu zeigen, dass der Mensch auch noch da und noch zu etwas da ist.

      Reform der Arbeitsmarktpolitik? Nein, wir wüssten nicht, wo man sonst noch ansetzen könnte als bei der allein rettenden Qualifizierung, vor allem im endlos zukunftsträchtigen IT-Bereich.

      In der Zeit zwischen 2010 und 2019, an deren Ende es auch eine längere Phase hoher Konjunktur gab, ist der Anteil der Langzeitbeschäftigungslosen38 an allen durchschnittlich arbeitslos Vorgemerkten in Österreich von 18 auf knapp 33 Prozent gestiegen.

      Der Wert liegt Ende Februar 2021 bei 34,4 Prozent. Die Zahl der Langzeitbeschäftigungslosen in Österreich, mittlerweile fast 175.000 Menschen, ist jedoch heute um 50.000 höher als vor dem Beginn der Corona-Geschehnisse im März 2020.

      Reform der Arbeitsmarktpolitik? Nein. Es gibt neben der Qualifizierung keine Ideen, außer noch mehr temporäre Lohnsubventionen für Betriebe oder Programme zur Förderung von befristeten – und nur selten zusätzlichen – Beschäftigungsverhältnissen in den Gemeinden.

      Es gehört schon zu den Gemeinplätzen: Nach der industriellen Produktion erfasst die Automatisierung nun zusehends den Bereich der Dienstleistungen und der Kommunikation. Bankangestellte und Versicherungsberater – also Menschen in besonders „kommunikativen“ Berufen – reden nur mehr selten mit ihren Kunden, seit es Online-Formulare zur Beantragung und Software zur Erstellung von Kreditverträgen und Polizzen gibt. Brillante Roboter stehen ante portas und werden von Medizin bis Recht auch schon herzlich willkommen geheißen, weil sie eine bisher undenkbare, kostenpulverisierende Taktung heilsamer Diagnosen und präziser Vertragsentwürfe mitbringen. Damit zerplatzt im Nu die lange gepflegte Hoffnung auf die „Dienstleistungsgesellschaft“ als Job-Ersatzmaschine insbesondere für die oberen Qualifikationsbereiche. Bald drohen bis zu 50 Prozent aller derzeitigen Jobs, zumindest in Teilprozessen, automatisiert zu werden.

      Das alles reichte aber bislang nicht für einen Paradigmenwechsel im System der sozialen Sicherung bei Arbeitslosigkeit. Ist das jetzt mit „Corona“ anders?

      In den ersten zwölf

Скачать книгу