Gesammelte Werke. Aristoteles
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Siebentes Kapitel.
Wie haben gesehen, daß Unenthaltsamkeit und Enthaltsamkeit es ausschließlich mit denselben Dingen zu tun haben wie Unmäßigkeit und Mäßigkeit, und daß es den anderen Dingen gegenüber eine andere Art von Unenthaltsamkeit gibt, die nur metaphorisch und nicht schlechthin so heißt. Betrachten wir nun auch, daß die Unenthaltsamkeit im Zorn weniger schimpflich ist als die in den Begierden.
Der Zorn scheint nämlich noch in etwa ein Ohr für die Vernunft zu haben, nur daß er nicht richtig hört, gleich einem behenden Diener, der, ohne seinen Herrn ganz ausreden zu lassen, hinausläuft und dann den Befehl verkehrt ausführt, oder gleich einem Hunde, der wenn es blos klopft, gleich Laut gibt, ohne Acht zu geben, ob es ein Freund ist: gerade so stürmt der Zorneseifer aus Hitze und Lebhaftigkeit der Natur auf die Rache los: er hat zwar gehört, aber nicht das Befohlene gehört. Der Verstand oder die Einbildung haben ihm gesagt, es liege übermütige oder geringschätzige Behandlung vor, der Zorn aber, gleichsam schlußfolgernd, daß man sich gegen ein solches Verhalten wehren müsse, läßt sich nun ohne weiteres gehen. Die Begierde dagegen stürmt, wenn nur Verstand oder Sinn (1149b) anzeigen, daß etwas angenehm sei, zum Genuß, und so folgt der Zorn gewissermaßen der Vernunft, die Begierde aber nicht, und darum ist sie schimpflicher, d. h. sittlich häßlicher. Denn der im Zorne Unenthaltsame unterliegt in gewissem Sinne der Vernunft, der Sinnenmensch aber wird nicht von der Vernunft, sondern von der Begierde überwunden.
Ferner, es ist verzeihlicher dem natürlichen Verlangen zu folgen, wie es auch eher verzeihlich ist, den allen Menschen gemeinsamen sinnlichen Begierden, insofern sie gemeinsame sind, nachzugeben. Der Zorn aber und die Heftigkeit ist naturgemäßer als die Begierden nach dem Übermaß und nach dem, was nicht notwendig ist, und, in diesem Sinne auf die ererbte Natur sich berufend, suchte jener Mensch, der seinen Vater schlug, sich zu rechtfertigen, indem er sagte: »Auch er hat den seinigen geschlagen und der wieder den seinen, und« – auf seinen Sohn zeigend – »der wird mich schlagen, wenn er ein Mann geworden ist; denn es liegt uns im Blute.« Ebenso sagte ein anderer zu seinem Sohne, der ihn an den Haaren fortschleifte, er solle ihn nicht weiter als bis zur Türe schleifen, denn er habe auch seinen Vater nur so weit geschleift.
Ferner, die Größe des Unrechts wächst mit dem Grade der Hinterlistigkeit. Nun ist aber der Zornmütige und der Zorn nicht hinterlistig, sondern offen, wohl aber ist es die Begierde203. Darum heißt Aphrodite bei den Dichtern »die ränkesüchtige Tochter Cyperns«, und Homer sagt von ihrem gestickten Gürtel, es wohne darin
»Schmeichelnde Bitte, die auch des Verständigsten Sinne betöret.«204
Wenn also diese Unenthaltsamkeit ungerechter und häßlicher ist als die im Zorn, so ist sie auch Unenthaltsamkeit schlechthin und gewissermaßen ein Laster.
Endlich verübt niemand mit Trauer Frevel und Unrecht; jeder aber, der im Zorn handelt, handelt mit Trauer, dagegen der Frevler mit Lust. Wenn nun also die Dinge, worüber wir uns mit Recht am ärgsten entrüsten, auch die Gerechtigkeit ärger verletzen, so muß das auch von der aus der Begierde entspringenden Unenthaltsamkeit gelten, da sie zu Frevel und eigentlicher Ungerechtigkeit verleitet, was der Zorn nicht tut.
So haben wir denn gesehen, daß die Unenthaltsamkeit des Lüstlings schimpflicher ist als die des Zornmütigen, und daß die Enthaltsamkeit und die Unenthaltsamkeit es mit den körperlichen Begierden und Lüsten zu tun hat. Nehmen wir nun auch die Unterschiede dieser letzteren in betracht.
Wie anfangs gesagt worden, sind die Begierden und Lüste teils nach Art und Grad menschlich und natürlich, teils sind sie tierischer Art oder endlich drittens auch Folgeerscheinungen von körperlichen Defekten oder von Krankheiten. Von diesen drei Arten ist es nur die erste, womit die Mäßigkeit und die Unmäßigkeit es zu tun hat. Daher nennen wir auch die Tiere nicht mäßig oder unmäßig, es müßte denn im übertragenen Sinne sein, oder wenn eine Tiergattung es der anderen ganz und gar in Wildheit, Geilheit und Gefräßigkeit zuvortut. Denn das Tier hat nicht (1150a) Willenswahl und Vernunft, sondern es fällt wohl einmal von seiner Natur ab wie ein rasender Mensch.
Vertiertheit ist im Vergleich zur Schlechtigkeit ein Minus, aber furchtbarer. Denn bei ihr ist nicht das Beste verderbt, wie bei dem, der noch Mensch bleibt, sondern man hat es nicht. Es ist also ähnlich, wie wenn man Unbeseeltes und Beseeltes mit Rücksicht darauf vergleicht, was schlechter ist. Die Schlechtigkeit dessen, was kein seiner selbst mächtiges Prinzip hat, ist immer harmloser, ein solches Prinzip ist aber der Verstand. Es ist also ähnlich, wie wenn man die Ungerechtigkeit und den Ungerechten vergleicht; beides ist in gewissem Sinne schlechter; denn ein schlechter Mensch kann tausendmal mehr Schlechtes tun als ein Tier205.
Achtes Kapitel.
Zu den auf dem Gefühl und dem Geschmack beruhenden Arten von Lust und Unlust, Begehren und Fliehen, die weiter oben als die Sphäre der Unmäßigkeit und der Mäßigkeit bezeichnet worden sind, kann man sich einesteils so verhalten, daß man denjenigen Regungen unterliegt, worüber die Mehrzahl Herr bleibt, anderseits so, daß man über die Herr bleibt, denen die Mehrzahl unterliegt. Hier heißt der, der es mit der Lust zu tun hat, unenthaltsam oder enthaltsam, und der es mit der Unlust zu tun hat, weichlich oder abgehärtet. In der Mitte hält sich der Habitus der meisten, wenn sie auch mehr nach der schlechten Seite neigen.
Da aber die verschiedenen Arten der Lust teils notwendig sind teils nicht, und die notwendigen es bis zu einem gewissen Grade sind, während das Übermaß und der Mangel es nicht ist, und da es sich ebenso mit den verschiedenen Arten des Begehrens und der Unlust verhält, so ist derjenige, der dem Übermaß der Lust nachgeht oder der Lust auf übermäßige Weise, falls er es vorsätzlich, um ihrer selbst willen, nicht wegen eines außer ihr liegenden Zweckes tut – unmäßig und ledig der Zucht. Denn er ist der Reue unfähig und mithin unheilbar. Denn wo keine Reue, da keine Möglichkeit der Besserung. Das Gegenteil ist wer darin zu wenig tut, und in der Mitte steht der Mäßige, der Mann der Selbstzucht. Ihm steht gleich wer die körperliche Unlust flieht, nicht aus Schwäche, sondern vorsätzlich206. Von denen, die nicht vorsätzlich handeln, wird der eine durch die Lust verleitet, der andere durch die Scheu vor der Unlust der nicht gestillten Begierde, und so unterscheiden