Atempause. Roland Kaiser

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Atempause - Roland Kaiser

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      Noch am selben Nachmittag rief ich meinen Hausarzt an, um einen kurzfristigen Untersuchungstermin zu vereinbaren. Aber ich hatte Pech. Es war ein Mittwoch, und da ging nachmittags gar nichts mehr. Nun wollte ich aber auch nicht als Notfall zu einer Vertretung gehen. So beruhigten Silvia und ich uns mit der Absichtserklärung: „In Ordnung, dann warten wir eben die eine Nacht noch ab. Das geht schon irgendwie. Aber morgen fahren wir so früh wie möglich zum Arzt.“

      Außerdem hatte uns der Blick in den Terminkalender gezeigt, dass wir eine wichtige private Verabredung am Abend übersehen hatten. Also quälte ich mich weiter durch den Tag, diszipliniert bemüht, mir ja nichts anmerken zu lassen. Ich dachte immer noch, mir hingen die Nachwirkungen der Party nach. Und damit wollte ich nun wirklich nicht hausieren gehen. Ich saß also wie vereinbart bei dieser privaten Verabredung, konnte aber an nichts anderes denken als daran, dass ich keine Luft in meine Lungen bekomme. Einatmen, ausatmen. Einatmen, ausatmen. Das Atmen forderte meine ganze Aufmerksamkeit.

      Geraucht habe ich an diesem Tag übrigens keine einzige Zigarette. Die Lust daran war mir gründlich vergangen. Gab ich doch den Zigaretten die alleinige Schuld an meiner Atemnot. Insgeheim hoffte ich ja auch immer noch, die Rauchabstinenz würde meine Lungen besänftigen und mir über kurz oder lang die bisher gewohnte Atemfreiheit wiedergeben.

      Wir gingen früh zu Bett. Eine neue Nacht, eine neue Runde. Rückblickend ein Wahnsinn. Denn diese zweite Nacht hätte fatale Folgen haben können. Doch da wir uns der gesundheitlichen Gefahr nicht bewusst waren, schliefen Silvia und ich mehr schlecht als recht dem nächsten Morgen entgegen. Auch diesmal fand ich im Schlaf nicht die ersehnte Erleichterung und Erholung. Dabei war die Nacht bisher immer meine liebste Tageszeit gewesen. Ich bin eher ein Nachtmensch. Jetzt sehnte ich den Morgen herbei.

      Am Donnerstag wurde ich früh wach – körperlich, natürlich, wieder schlapp und wie gerädert. Am späten Nachmittag hatten wir endlich einen Arzttermin, bei einem vor Ort in Münster ansässigen Lungenspezialisten, der uns von meinem Hausarzt empfohlen worden war. Meine gleichbleibend alarmierende Atemnot hatte Silvia so stark beunruhigt, dass sie auf einen Facharzt gedrängt hatte. Meine Frau, unser Sohn Jan und ich fuhren also zum Arzt. Die Wartezeit verbrachten wir überwiegend schweigend. Silvia spielte mit Jan. Als ich endlich aufgerufen wurde, musste ich im Rahmen der üblichen Routineuntersuchungen zunächst einen Lungenfunktionstest machen. Ich musste Luft stoßartig in einen Schlauch ausatmen: So wurde der Atemfluss gemessen. Das Ergebnis war niederschmetternd. Kein Luftballon hätte sich davon beeindrucken lassen. Der Gesichtsausdruck der jungen Arzthelferin machte mir wenig Hoffnung auf eine erfreuliche Diagnose. Ihr Gesicht schien zu fragen: „Was macht denn der hier? War das wirklich alles, was der mir anzubieten hat?“ – Nach dem Motto: Viel war das ja wirklich nicht. Ich fühlte mich kraftlos und schaute weg, um mich nur nicht ihrem Blick zu stellen und vielleicht sogar reden zu müssen. Anschließend wurde mir Blut aus dem Ohrläppchen entnommen, um den Sauerstoffgehalt im Blut zu messen. Nach dieser zweiten Untersuchung bat man mich, wieder im Wartezimmer Platz zu nehmen. Mit meiner Frau und unserem Sohn saß ich dort relativ entspannt. Wir unterhielten uns, warteten auf die Diagnose und das Rezept, das mir nach zwei Tagen mit Atemnot und Ungewissheit endlich Linderung und Heilung bringen sollte.

      Nachdem die Sprechstundenhilfe dem Lungenfacharzt die Werte vorgelegt hatte, kam sie und bat mich, mit meiner Frau, aber ohne Jan ins Sprechzimmer zu kommen und Platz zu nehmen. Wir hatten uns gerade hingesetzt, als der Arzt mich – halt, nein: eher wandte er sich direkt an meine Frau – ohne Umschweife fragte: „Sagen sie mal, wer von Ihnen beiden ist eigentlich hierher gefahren?“ Da meinte meine Frau: „Mein Mann ist gefahren.“ – „Ah ja, ihr Mann ist also gefahren … hm, hm. Passen Sie auf, Frau Kaiser. Sie werden jetzt Ihren Mann mitnehmen, weil er ganz bestimmt nicht mehr fahren wird, und werden mit ihm direkt und unmittelbar ins Krankenhaus fahren.“ Praktisch denkend, wie Silvia nun mal ist, entgegnete sie ihm spontan: „Ja, gut. Ich würde aber gerne vorher noch zu Hause vorbeifahren und einen Schlafanzug für meinen Mann einpacken, falls er dortbleiben muss …“ Erst bei den nächsten Sätzen wurde uns beiden bewusst, worauf der Arzt hinauswollte. Er versuchte, uns möglichst schonend beizubringen, was wir auf keinen Fall hatten hören wollen. Jetzt wurde er deutlich und erklärte uns unmissverständlich: „Nein, nein. Das werden Sie auf keinen Fall tun. Wir haben hier die Lungenwerte Ihres Mannes und den Sauerstoffgehalt seines Blutes gemessen, und ich muss Ihnen sagen, dass seine Werte alles andere als gut sind. Hätten wir beide dieselben Werte, wären wir bereits tot. Die Werte sind dramatisch. Sie müssen sich das ungefähr so vorstellen: Ein gesunder Mensch hat in etwa zwischen 75 und 80 Prozent Sauerstoffgehalt im Blut. Bei Ihrem Mann aber liegt er zurzeit bei rund 17 bis 18 Prozent. Das ist mehr als lebensbedrohlich. Also, Sie nehmen jetzt Ihren Mann und fahren auf dem schnellsten Weg ins Krankenhaus. Sofort. Sobald er dort aufgenommen ist, können Sie gerne nach Hause fahren und ihm den Schlafanzug bringen. Und wenn Sie das nicht unverzüglich tun, werde ich persönlich einen Krankenwagen holen lassen.“ – „Nein, nein“, erwiderte meine Frau erstaunlich gefasst.

      Wir hatten den Arzt zwar den Worten nach verstanden, doch die durchaus schockierende Bedeutung seiner Diagnose sickerte erst langsam in unser Bewusstsein. Wir zeigten zu unserer eigenen Überraschung keine größere Gefühlsregung, und so ermahnte der Lungenfacharzt Silvia noch einmal nachdrücklich beim Abschied: „Bitte denken Sie daran: Sie fahren, sofort, und nicht Ihr Mann!“

      Als wir das Behandlungszimmer verließen, schauten Silvia und ich uns ziemlich ernst an und wussten: Das ist kein Spaß mehr. Wir konnten uns nichts mehr vormachen. Die Diagnose war gnadenlos ehrlich. Ich könnte tot sein?! Das saß.

      Unser Sohn spürte gleich, dass etwas mit Mama und Papa nicht stimmte. Wir erklärten ihm, der Doktor habe gesagt, dass wir direkt ins Krankenhaus fahren müssten. Jan weinte im Fahrstuhl auf dem Weg nach unten ziemlich heftig, obwohl wir ihm natürlich nicht die ganze Wahrheit gesagt hatten. Aber es gelang uns, unser Kind zu beruhigen. Wir behaupteten, es sei nur noch eine Untersuchung zu machen, die nicht lange dauern werde. Auf jeden Fall fuhren wir auf die unmissverständliche Warnung des Arztes hin auf direktem Weg und ohne vorher wegen des Pyjamas nach Hause zu fahren, geschweige denn irgendwelche anderen Sachen zu holen, ins Krankenhaus. Wir gingen auf die Station, die uns der Arzt genannt hatte. Wir wurden dort bereits erwartet. Ein weiterer Arzt nahm uns freundlich in Empfang. Erneut wurden dieselben Untersuchungen gemacht: Lungenfunktionstest und Blutabnahme. In uns keimte die leise Hoffnung auf, dass vielleicht ein Irrtum vorläge und die vorherigen Messungen fehlerhaft seien. Doch das Ergebnis war ein weiteres Mal ernüchternd: „Wie mein Kollege Ihnen vorhin schon gesagt hat, sind Sie in einem Zustand, in dem Ihre Frau und ich“, so sagte der Arzt, „schon nicht mehr am Leben wären. Also bitte, Herr Kaiser, jetzt geht’s los! Sie müssen sofort nach oben auf die Station.“

      Silvia bewahrte die Fassung. Das half mir selbst sehr, mit der Situation klarzukommen. Nachdem ich zur Einweisung auf die Station aus dem Zimmer geführt worden war, fuhr Silvia nach Hause und ließ Jan bei unserer Nachbarin, einer lieben Freundin der Familie. Besonnen und umsichtig packte sie meine Reisetasche mit dem Nötigsten – natürlich vergaß sie auch meinen Pyjama nicht. Währenddessen wurde ich direkt auf die Intensivstation verfrachtet. Wie ich dort hinkam, wer mich begleitete, daran erinnere ich mich nicht mehr genau. Denn ich war schon sehr, sehr müde und das Ganze erschien mir eher wie ein Albtraum als real. Ich fügte mich einfach.

      Als Silvia nach knapp einer Stunde wieder ins Krankenhaus zurückkam, fragte sie an der Pforte nach meinem Zimmer. Wie sie mir später erzählte, sagte man ihr daraufhin, sie müsse in die zweite Etage fahren und von dort ins Nebengebäude hinübergehen. Die Intensivstation! Das war für Silvia natürlich ein Schock.

      Wer schon einmal eine Intensivstation besucht hat, weiß, wie beklemmend die Atmosphäre dort ist. Allein die endlos lang erscheinende Fahrt im Aufzug fällt schwer, die Ungewissheit tut ihr Übriges. In die Intensivstation kann man auch nicht einfach hineinspazieren und dem Patienten Blumen und Pralinen ans Bett bringen. Die Stationstür war verschlossen. Silvia musste klingeln und sich über eine Sprechanlage anmelden.

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