Am Rande der Glückseligkeit. Bettina Baltschev
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Die Niederländer beeindruckt solche Mäkelei kaum, sie hofieren ihre Meister, die Künstler wie die Ingenieure, die hunderte Quadratkilometer Überschwemmungsboden trockenlegen, das Meer zähmen und ihm mehr und mehr Land abtrotzen. Gemäß der Devise »Gott schuf die Erde, aber die Niederländer schufen die Niederlande« lassen sie sich den Schlaf höchstens von brechenden Deichen rauben und erkennen die göttliche Grenzziehung zwischen menschenfreundlichem Festland und menschenfeindlichem Meer schlicht nicht an, wie Alain Corbin schreibt: »Die Reise nach Holland sorgt im Abendland für eine zunehmende Bereitschaft, das Schauspiel des Meeres mit Bewunderung zu betrachten und Küstenspaziergänge zu unternehmen. Der ›Tourist‹ des klassischen Zeitalters identifiziert die Niederlande mit dem Meer. (…) Tatsächlich hat der Holländer es gewagt, dem Meer Grenzen zu setzen. Dabei hat er das Werk des Schöpfers nicht beeinträchtigt, sondern es mit Gottes Segen vollendet.« Jawohl, mit Gottes Segen und noch mehr technischem Verstand, der seinen Ausdruck nicht nur in rasanten Segelwagen findet, sondern auch und vor allem im Wasserbau. Dessen Entwicklung hängt selbstredend eng mit den topografischen Gegebenheiten zusammen, die zugleich dafür sorgen, dass der holländische Strand sowohl im wörtlichen als auch im übertragenen Sinne leichter zugänglich ist als anderswo. Die Gemälde der holländischen Meister deuten es mit ihren weiten Himmeln bereits an, anders als in einer bergigen oder felsigen Landschaft, hinter der die See unvermittelt auftaucht, wird der Besucher der niederländischen Küste nicht plötzlich überwältigt, sondern kann sich dem erhabenen, dem schaurig-schönen Anblick allmählich nähern. Denn auch wenn das Land klein ist, hinter den Stränden lässt es der Natur ihren Raum. Zwar hat sich Den Haag immer dichter an den Strand gebaut, und die Tram aus der Stadt hält heute gleich hinterm Kurhaus, doch an großen Abschnitten der holländischen Strände durchstreift man auf dem Weg zum Meer vor allem breite Dünenlandschaften. Dicht bewachsen von Flechten, Moosen und niedrigen Buschwäldern, bilden sie die natürliche Vorbühne des Strandes, wo die Luft mit jedem Meter salziger wird, wo einem allmählich der Geruch der Nordsee in die Nase und das Rauschen in die Ohren dringt. Wenn schließlich alle Sinne in Habachtstellung sind, hebt sich hinter dem letzten hohen Hügel der Vorhang zum prächtigen Naturschauspiel. Das Meer ist da und das Herz schlägt ruhig.
Je auf ihre Weise tragen Naturkunde, Glaube, Malerei und Philosophie also dazu bei, auch bei den Menschen, die keine Fischer sind und das Meer nur vom Erzählen kennen, die gefährlichsten Meereswogen ihrer Vorstellungen zu glätten, die stürmischsten Winde ihrer Fantasien einzufangen und ihnen eine Einladung ans Meer ins Ohr zu flüstern, die an die vielzitierte Zeile Friedrich Hölderlins erinnert: »Komm! Ins Offene, Freund!« Und ja, langsam folgen noch die Strandfernsten dieser Aufforderung, kommen erst vereinzelt, dann immer zahlreicher ins Offene, ins Weite und Frische. Als 1818 in Scheveningen das erste Badehaus eröffnet wird und damit der erste badplaats in den Niederlanden entsteht, hinken die Holländer damit anderen Ländern sogar einige Jahre, ja Jahrzehnte hinterher. Angesichts ihrer Geschichte ist das durchaus erstaunlich, liegt aber wohl gerade an der Selbstverständlichkeit, mit der sie bereits angekommen sind, wohin andere erst aufbrechen müssen. Wer braucht schon ein exklusives Seebad, um Menschen ans Meer zu locken, die längst schon da sind? Anderswo in Nordeuropa ist man vor der Wende zum 19. Jahrhundert dabei, den Strand vom gefährlichen Niemands- in berückendes Jedermannsland umzuwidmen. Als Avantgardisten dürfen sich in diesem Falle die Engländer fühlen, die den Reiz ihrer eigenen Küsten entdecken, verschlafene Fischerdörfer zu seaside resorts ausbauen und öde Orte in Vergnügungsoasen verwandeln. In Deutschland braucht es dagegen erst einen prominenten Fürsprecher dieser neuen Form der Freizeitgestaltung, der sich in Georg Christoph Lichtenberg auch findet. Der Naturwissenschaftler und Schriftsteller aus dem meerfernen Darmstadt hatte England bereits mehrfach bereist, als er 1793 einen Aufsatz mit der Frage Warum hat Deutschland noch kein großes öffentliches Seebad? überschreibt und darin ausführt: »Allein wo sind die Orte, die, wie etwa Brighthelmstone, Margate und andere in England, in den Sommermonathen an Frequenz selbst unsere berühmtesten einländischen Bäder und Brunnenplätze übertreffen? Ich weiß von keinem. Ist dieses nicht sonderbar?« Um seine Leserschaft zu überzeugen, zieht Lichtenberg alle Register: »Der Anblick der Meereswogen, ihr Leuchten und das Rollen ihres Donners, der sich auch in den Sommermonathen zuweilen hören läßt, gegen welchen der hochgepriesene Rheinfall wohl bloßer Waschbecken-Tumult ist; die großen Phänomene der Ebbe und Fluth, deren Beobachtung immer beschäftigt ohne zu ermüden; die Betrachtung, daß die Welle, die jetzt hier meinen Fuß benetzt, ununterbrochen mit der zusammenhängt, die Otaheite [heute Tahiti] und China bespühlt, und die große Heerstraße um die Welt ausmachen hilft; und der Gedanke, dieses sind die Gewässer, denen unsre bewohnte Erdkruste ihre Form zu danken hat, nunmehr von der Vorsehung in diese Grenzen zurück gerufen, – alles dieses, sage ich, wirkt auf den gefühlvollen Menschen mit einer Macht, mit der sich nichts in der Natur vergleichen läßt, als etwa der Anblick des gestirnten Himmels in einer heitern Winternacht. Man muß kommen und sehen und hören.« Obwohl Cuxhaven an der Nordsee Lichtenberg geeignet scheint, es den Engländern nachzutun, zögert man dort so lange, bis die Konkurrenz an der Ostsee schneller ist. Seit 1793 trägt Heiligendamm den Titel »erstes deutsches Seebad«, weil ein fixer Arzt, Samuel Vogel, seinen Herzog, Friedrich Franz I. von Mecklenburg, vor allen anderen von der modernen Idee überzeugt. Dem ist zwar an der Gesundheit der Badegäste weniger gelegen als an deren Geldbeutel, aber am Ende kommen beide zu ihrem Recht, und wer nach Doberan an den Heiligen Damm reist, findet dort fortan sowohl das kräftigende Bad am Morgen als auch die Spielbank am Abend. Und Samuel Vogels 1817 formulierte Allgemeinen Baderegeln zum Gebrauche für Badelustige überhaupt und diejenigen insbesondere, welche sich des Seebades in Doberan bedienen, sind durchaus nicht gealtert. So lautet seine Regel Nummer 1: »Die beste Zeit zum kalten Bade ist des Vormittags in einer früheren oder späteren Stunde, wie sie dem Badegaste am angenehmsten und bequemsten ist, nüchtern oder nach einem leichten Frühstücke, und nach erfolgter natürlicher Leibesöffnung.« Es folgen Hinweise, man möge nicht überhitzt, schwindlig oder krank ins kalte Wasser steigen, sich nach dem Bade gehend oder reitend bewegen und es möglichst täglich wiederholen, bis schließlich die jahrhundertelange Annäherung des Menschen an den Überschwemmungsboden, das Niemandsland, das Grenzgebiet Strand in Regel Nummer 5 kulminiert: »Mit je mehr Frohsinn, Heiterkeit, Vertrauen und Hoffnung man sich dem Neptun in die Arme wirft, desto glücklicher geht, bey sonst gleichen Umständen, das Baden von Statten.« Mittlerweile haben sich übrigens auch die Franzosen ihres Zögerns und Zweifelns entledigt, die ersten stations balnéaires eröffnen an der normannischen Atlantikküste. Obwohl die Hafenstadt Dieppe für sich den Titel »erstes französisches Seebad« in Anspruch nimmt, sind es bald Trouville-sur-Mer und Deauville, die ihr den Rang ablaufen, weil dort die haute société der Hauptstadt »kleine Fluchten« in Form von luxuriösen Hotels mit eigenem Strandzugang erwarten.
Am Strand von Scheveningen wird heutzutage niemandem der Weg versperrt und selten dreht sich überhaupt einer nach dem andern um. Ein paar Surfer zerren neongrüne Bretter ins Meer. Ein mittelalter Mann massiert den Rücken seiner nackten Frau. Technobässe aus einer Boombox, die vier Jungs vor ihren nackten Füßen in den Sand gestellt haben, verfangen sich im Wind und kommen gegen das