Was ist Gerechtigkeit?. Hans Kelsen
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I.
1. Gerechtigkeit ist in erster Linie eine mögliche, aber nicht notwendige Eigenschaft einer gesellschaftlichen Ordnung. Nur in zweiter Linie eine Tugend des Menschen. Denn ein Mensch ist gerecht, wenn sein Verhalten einer Ordnung entspricht, die als gerecht gilt. Was bedeutet es aber, dass eine Ordnung gerecht ist? Dass diese Ordnung das Verhalten der Menschen in einer Weise regelt, die alle befriedigt, so dass alle ihr Glück unter ihr finden. Die Sehnsucht nach Gerechtigkeit ist des Menschen ewige Sehnsucht nach Glück. Da er dieses Glück nicht als isoliertes Individuum finden kann, sucht er es in der Gesellschaft. Gerechtigkeit ist gesellschaftliches Glück, ist das Glück, das eine gesellschaftliche Ordnung garantiert. In diesem Sinne identifiziert Platon Gerechtigkeit mit Glück, wenn er behauptet, nur der Gerechte sei glücklich, der Ungerechte aber unglücklich.
Mit der Behauptung, Gerechtigkeit ist Glück, ist die Frage offenbar noch nicht beantwortet, sondern nur verschoben. Denn jetzt stellt sich die Frage: Was ist Glück?
2. Es ist klar, dass es eine gerechte, d. h. das Glück aller gewährleistende Ordnung nicht geben kann, wenn man mit Glück, dem ursprünglichen Sinne des Wortes gemäß, das subjektive Gefühl, das ist dasjenige meint, was ein jeder darunter für sich selbst versteht. Denn dann ist es unvermeidlich, dass das Glück des einen mit dem Glück eines anderen in Konflikt gerät. Ein Beispiel: Liebe ist die wichtigste Quelle für Glück sowohl als für Unglück. Nehmen wir an, dass zwei Männer eine und dieselbe Frau lieben und dass beide – mit Recht oder Unrecht – glauben, nicht glücklich sein zu können, ohne gerade diese Frau für sich allein zu haben. Aber nach dem Gesetz und vielleicht auch nach ihrem eigenen Gefühl kann die Frau nur einem angehören. Das Glück des einen ist unweigerlich das Unglück des anderen. Keine gesellschaftliche Ordnung kann dieses Problem in einer gerechten Weise, d. h. so lösen, dass beide Männer glücklich werden. Selbst nicht das berühmte Urteil des weisen König Salomon. Er entschied, wie bekannt, ein Kind, um dessen Besitz sich zwei Frauen stritten, in zwei Teile zu teilen, aber war willens, das Kind jener zuzusprechen, die ihren Anspruch zurückziehen würde, um das Leben des Kindes zu retten. Denn diese – so setzte der König voraus – würde damit beweisen, dass sie das Kind wahrhaft liebe. Das salomonische Urteil ist, wenn überhaupt, gerecht nur unter der Bedingung, dass bloß eine der beiden Frauen das Kind liebt. Wenn es beide lieben – was möglich und sogar wahrscheinlich ist, da beide es haben wollen – und wenn daher beide ihren Anspruch zurückziehen, bleibt der Streit unentschieden; und wenn dann das Kind schließlich doch einer der beiden Parteien zugesprochen wird, ist das Urteil sicherlich nicht gerecht, denn es macht die andere unglücklich. Unser Glück hängt sehr häufig von der Befriedigung von Bedürfnissen ab, die keine gesellschaftliche Ordnung gewährleisten kann.
Ein anderes Beispiel: Der Führer einer Armee soll ernannt werden. Zwei Männer stehen im Wettbewerb; aber nur einer kann berufen werden. Es scheint selbstverständlich zu sein, dass der für das Amt Geeignetere zu berufen ist. Aber wie, wenn beide gleich geeignet sind? Dann ist eine gerechte Lösung ausgeschlossen. Nehmen wir an, dass der eine darum für geeigneter gehalten wird, weil er eine gute Figur und ein schönes Gesicht hat und so den Eindruck einer starken Persönlichkeit macht, während der andere klein ist und ein unscheinbares Äußeres hat. Wenn der erste die Stelle bekommt, wird der andere die Entscheidung keineswegs als gerecht empfinden; er wird sagen, warum sehe ich nicht so gut aus wie der andere, warum hat die Natur meinen Körper so viel weniger anziehend gestaltet? Und in der Tat, wenn wir die Natur vom Standpunkt der Gerechtigkeit aus beurteilen, müssen wir zugeben, dass die Natur nicht gerecht ist: sie macht den einen gesund und den anderen krank, den einen klug und den anderen dumm. Keine gesellschaftliche Ordnung kann die Ungerechtigkeit der Natur völlig ausgleichen.
3. Wenn Gerechtigkeit Glück ist, dann ist eine gerechte Gesellschaftsordnung unmöglich, solange Gerechtigkeit so viel wie individuelles Glück bedeutet. Aber eine gerechte Gesellschaftsordnung ist selbst unter der Voraussetzung unmöglich, dass sie zwar nicht das individuelle Glück aller, aber das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl herbeizuführen sucht. Das ist die berühmte Definition der Gerechtigkeit, die der englische Philosoph und Jurist Jeremy Bentham formuliert hat. Aber auch Benthams Formel ist nicht anwendbar, wenn unter Glück ein subjektiver Wert verstanden wird. Denn verschiedene Individuen haben höchst verschiedene Vorstellungen von dem, was ihr Glück ausmacht. Das Glück, das eine Gesellschaftsordnung zu garantieren vermag, kann nicht Glück in einem subjektiv-individuellen, sondern nur Glück in einem objektiv-kollektiven Sinne sein. Das heißt, unter Glück darf man nur die Befriedigung gewisser Bedürfnisse verstehen, die von der gesellschaftlichen Autorität, dem Gesetzgeber, als solche anerkannt sind, die der Befriedigung würdig sind, so wie etwa das Bedürfnis nach Nahrung, Kleidung, Behausung u. dgl. Es kann nicht bezweifelt werden, dass die Befriedigung gesellschaftlich anerkannter Bedürfnisse etwas von dem ursprünglichen Sinne des Wortes völlig Verschiedenes ist. Denn dieser Sinn ist dem innersten Wesen der Sache nach ein höchst subjektiver. Der Wunsch nach Gerechtigkeit ist so elementar, ist so tief verwurzelt im Herzen des Menschen, weil er nur der Ausdruck seines unzerstörbaren Wunsches nach dem eigenen, subjektiven Glück ist.
4. Die Idee des Glücks muss einen radikalen Bedeutungswandel erfahren, um eine soziale Kategorie, das Glück der Gerechtigkeit zu werden. Die Metamorphose, in der das individuelle und subjektive Glück zu der Befriedigung gesellschaftlich anerkannter Bedürfnisse wird, gleicht jener, der sich die Idee der Freiheit unterziehen muss, um ein gesellschaftliches Prinzip zu werden; und die Idee der Freiheit wird vielfach mit der der Gerechtigkeit identifiziert, so zwar, dass eine Gesellschaftsordnung als gerecht gilt, wenn sie die individuelle Freiheit garantiert. Da wirkliche Freiheit, d. h. Freiheit von jedem Zwang, von jeder Art Regierung, mit jeder Art von Gesellschaftsordnung unvereinbar ist, kann die Idee der Freiheit die negative Bedeutung eines Frei-Seins von Regierung nicht beibehalten. Der Begriff der Freiheit muss die Bedeutung einer besonderen Form der Regierung annehmen. Freiheit muss bedeuten: Regierung durch die Mehrheit, wenn nötig, gegen die Minderheit der regierten Subjekte. Die Freiheit der Anarchie verwandelt sich so zur Selbstbestimmung der Demokratie. Auf demselben Wege wandelt sich die Idee der Gerechtigkeit aus einem Prinzip, das das individuelle Glück aller garantiert, zu einer gesellschaftlichen Ordnung, die bestimmte Interessen schützt, jene nämlich, die von der Mehrheit der der Ordnung Unterworfenen als dieses Schutzes wert anerkannt werden.
5. Aber welche menschlichen Interessen haben diesen Wert und welches ist die Rangordnung dieser Werte? Das ist die Frage, welche sich erhebt, wenn sich Interessenkonflikte ergeben. Und nur wo solche Interessenkonflikte bestehen, wird Gerechtigkeit zum Problem. Wo es keine Interessenkonflikte gibt, da besteht kein Bedürfnis nach Gerechtigkeit. Ein Interessenkonflikt aber liegt vor, wenn ein Interesse nur auf Kosten eines anderen befriedigt werden kann, oder, was auf dasselbe hinausläuft, wenn zwei Werte in Gegensatz treten, und es nicht möglich ist, beide zugleich zu verwirklichen, wenn der eine nur in dem Maß verwirklicht werden kann, als der andere vernachlässigt, wenn es unvermeidlich wird, die Verwirklichung des einen der des anderen vorzuziehen, zu entscheiden, welcher der beiden Werte der wichtigere, der höhere Wert, und schließlich, welches der höchste Wert ist. Das Problem der Werte ist vor allem und in erster Linie das Problem der Wertkonflikte. Und dieses Problem kann nicht mit den Mitteln rationaler Erkenntnis gelöst werden. Die Antwort auf die sich hier ergebenden Fragen ist stets ein Urteil, das in letzter Linie von emotionalen Faktoren bestimmt wird und daher einen höchst subjektiven Charakter hat. Das heißt, dass es gültig nur ist für das urteilende Subjekt, und in diesem Sinn relativ.
II.
6. Das eben Gesagte mögen einige Beispiele illustrieren. Einer bestimmten sittlichen Überzeugung zufolge ist das menschliche Leben, das Leben jedes einzelnen Individuums der höchste Wert. Folglich ist es, dieser Anschauung nach, absolut verboten, ein menschliches Wesen zu töten, auch nicht im Krieg und auch nicht in Vollstreckung der Todesstrafe. Dies ist bekanntlich die Anschauung der Kriegsdienstverweigerer und jener, die die Todesstrafe grundsätzlich ablehnen. Aber auch eine dieser entgegengesetzte, gleichfalls sittliche Überzeugung besteht, der zufolge der höchste Wert das