Orientierung finden. David Steindl-Rast
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Welche Kraft treibt eigentlich diesen Verfallsprozess der Gesellschaft voran? Die Umgangssprache nennt diese lebenszerstörende Macht das „System“. Unzählige begeisterte junge Lehrer, Medizinstudenten und politische Kandidaten mit hohen Idealen kennen die Erbarmungslosigkeit des „Systems“ nur allzu gut. Täglich müssen sie sich damit herumschlagen, müssen ihre Lebendigkeit und ihren Idealismus gegen den aufreibenden Druck des „Systems“ verteidigen. Dabei ist es gar nicht so eindeutig, was der Begriff „System“ in diesem Zusammenhang bedeutet. Hier heißt es vorsichtig sein. Wir dürfen das „System“ auf keinen Fall mit dem pädagogischen, medizinischen, politischen oder ähnlichen Systemen gleichsetzen. Alle diese Systeme können ja das Leben verbessern, wenn sie gut funktionieren. Sie werden nur dann schädlich, wenn das „System“ sich ihrer bemächtigt und sie vergiftet. Ist es nicht erstaunlich, wie blind wir sind für diese Unterscheidung zwischen den verschiedenen Systemen und dem „System“ im engeren Sinn, das sie befällt? Wir verwechseln hier den Patienten mit der Krankheit – ein erkranktes System mit dem „System“, das es zerstört. Dieses Missverständnis heißt es unbedingt zu vermeiden, da es unsre Handlungen fehlleiten muss. Wir dürfen doch nicht das kranke System beschuldigen und angreifen, sondern müssen versuchen, es von dem „System“ zu befreien, das es krankmacht.
Wir wollen aufmerksam unterscheiden. System im allgemeinen Sinne des Wortes bedeutet einfach „Struktur“ – das ist die wörtliche Übersetzung des griechischen sústēma = strukturierter Aufbau von etwas mit verschiedenen Teilen, Funktionen oder gegenseitigen Beziehungen. In diesem allgemeinen Sinn kann ein System positive oder negative Auswirkungen haben. Mit diesem Begriff ist kein Werturteil verbunden. Aber das „System“ in unsrem besonderen Sinn bedeutet immer eine Struktur mit negativen Auswirkungen. „Man kann dem System nicht trauen“, das ist ein Grundsatz, den wir wohl alle schon oft gehört haben. Er warnt vor der Gefahr, sich mit dem „System“ anzufreunden. Weil wir aber meist nicht zwischen den beiden Bedeutungen des Wortes System unterscheiden, laufen wir immer wieder Gefahr, beispielsweise dem politischen System automatisch zu misstrauen, anstatt uns unsrer Verantwortung zu stellen, es zu verbessern und vor der Bedrohung durch das „System“ zu schützen. Aber was ist das „System“ eigentlich und was macht es so mächtig?
Der Definition des Begriffes „System“ gemäß muss es sich auch beim „System“ in der engeren Bedeutung um ein Organisationsprinzip handeln, das wollen wir zunächst einmal festhalten. Da es viele andre Systeme beeinflussen kann, ist es offensichtlich ein übergeordnetes Prinzip, das Struktur und Dynamik der untergeordneten Prinzipien verändert. Worin besteht nun diese Veränderung? Wo immer das „System“ Einfluss gewinnt, verwandelt es persönliche Beziehungen systematisch in unpersönliche. Aus Ich-Du-Beziehungen werden Ich-Es-Beziehungen – Menschen werden wie Dinge behandelt.
Wir dürfen uns also das „System“ als eine Art Regelsystem vorstellen, das sich in andre Systeme einschleichen und in ihnen positive Beziehungen ausschalten kann. Dies bewirkt wie der Weltstaat in Huxleys Roman, dass alle Ausdrucksformen persönlicher Zugehörigkeit und Wertschätzung sowohl in der Öffentlichkeit als auch im Privatleben von der Gesellschaft geächtet werden. Wie aber kann es zu einem Gebilde mit solchen Auswirkungen kommen? Huxley erzählt uns nicht, wie sein Weltstaat entstanden ist. Wir wollen aber wissen: Wie kann die Monstrosität, die wir das „System“ nennen, überhaupt entstehen und sich entwickeln?
Stellen wir uns vor, du lächelst dem Portier am Morgen aufmunternd zu, anstatt vorbeizurennen, ohne ihn zu beachten. Lächeln ist ansteckend. Er lächelt zurück und lächelt vielleicht auch andre an, die heute vorbeikommen. Am Abend könnte ein kleiner Widerschein deines Lächelns nicht nur alle erreicht haben, die an ihm vorbeigingen, sondern auch alle, die ihnen wiederum begegneten, und so weiter und so fort, vielleicht sogar in einem großen Bogen bis zurück zu dir. Das Freundlichkeitsniveau der ganzen Umgebung könnte sich um ein Weniges gehoben haben. Es wäre aber auch denkbar, dass du am Morgen dem Blick des Portiers ausweichst. Es geht dir zwar flüchtig durch den Kopf, dass er ein Lächeln erhoffen könnte, aber heute ist dir das egal. Der gute Mann ist wirklich etwas enttäuscht und bevor der Tag zu Ende geht, hat dein kleines Versäumnis durch seine schlechte Laune unzählige andre ähnliche Versäumnisse bei ihm ausgelöst und Kälte verbreitet. Nicht nur das, sondern diese Kaltfront breitet sich immer weiter aus, obwohl es ja eigentlich nichts ist, was sich da ausbreitet, als ein Fehlen von etwas. Das aber kann Kreisprozesse katastrophaler Fehlleistungen nach sich ziehen. Wo etwas sein sollte – die Wärme menschlicher Beziehungen –, da klafft nun ein Loch. Das „System“ besteht aus nichts als solchen Löchern, die sich zu einer riesigen Beschädigung verbunden haben: Löcher und tief eingefahrene Verkehrsspuren im Straßennetz menschlicher Beziehungen.
Was aber gibt dem „System“ seine ungeheure Stoßkraft, wenn es letztlich „nichts“ ist, was sich da verbreitet? Weshalb hat es sich nicht längst erschöpft? Was hält es am Laufen? Es ist doch ein völlig unpersönliches Gebilde, wie kann es dann mit solcher Wucht Macht auf Personen und persönliche Beziehungen ausüben? Kann das bloße Fehlen von etwas sich als Wirkkraft erweisen? Beim Suchen nach einer Antwort auf diese Fragen kann es uns vielleicht helfen, an eine winzige, aber wichtige Schraube zu denken, die aus Versehen in einem Flugzeugmotor fehlt, was hunderten Menschen zum tödlichen Verhängnis werden kann. Ebenso kann das Fehlen von gegenseitiger Aufrichtigkeit und Vertrauen einer ganzen Gesellschaft zum Verhängnis werden.
Wie leicht können wir durch fehlende Aufmerksamkeit Gelegenheiten versäumen, die oben erwähnte Wärme menschlicher Beziehungen auszudrücken und weiterzuverbreiten. In diesem Nichts, wo etwas sein sollte, besteht unser persönlicher Beitrag zur unpersönlichen Gewalt* des „Systems“. Bei jeder Begegnung geht es ja um die Entscheidung, „ja“ oder „nein“ zu antworten auf die Einladung des Lebens, unser Gegenüber Zugehörigkeit und Wertschätzung fühlen zu lassen.
Leider ist es auch leicht, in die ausgefahrenen Verkehrsspuren des „Systems“ hineinzurutschen. Redewendungen drücken manchmal solche Furchen aus, die unvorsichtige Fahrer ins Schleudern bringen können. Korruptes Verhalten wird zur Erwartung und wir wiederholen vielleicht gedankenlos und mit zynischem Grinsen den Leitsatz „Vertrauen ist schon gut, aber Kontrolle ist besser“ und bemerken gar nicht, welche verheerende Wirkung ein solches Verfahren im Verkehr zwischen Menschen haben muss.
Solche Versäumnisse sind aber nicht die einzige Art und Weise, wie wir das unpersönliche „System“ mit persönlicher Energie versorgen. Es gibt immer einige, die – aus Egoismus und Kurzsichtigkeit – einen Vorteil darin sehen, Menschen wie Objekte für ihren eigenen Vorteil auszunutzen und dadurch aktiv dem „System“ einen Stützpunkt geben, von dem aus es sich ausbreiten kann. Was hier fehlt, ist jene Sicht auf das Ganze, die uns ein gesunder Sinn für gesellschaftlichen Zusammenhalt gibt. Dessen Fehlen ist äußerst gefährlich, denn auf lange Sicht zerstört eine Welt ohne gegenseitiges Vertrauen, Fürsorge und Liebe sich selbst.
Trotzdem gibt es neben diesen Wenigen, die vom „System“ profitieren, unzählige andre, die ganz offensichtlich unter dem „System“ leiden und es dennoch unterstützen, nämlich um sich dahinter zu verstecken. Sie machen das „System“ zum Sündenbock, anstatt sich dagegen aufzulehnen. Sind wir nicht alle ab und zu aus