Psycho im Märchenwald. Sebastian Bartoschek

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Psycho im Märchenwald - Sebastian Bartoschek

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      Im Märchen BRÜDERCHEN UND SCHWESTERCHEN, der Nummer 11 der Kinder- und Hausmärchen, haben wir es wieder mit einem Zaubermärchen der Gruppe „Übernatürliche oder verzauberte Verwandte“ (ATU 450) zu tun.

      In den Anmerkungen geben die Brüder Grimm zwei Erzählungen „aus den Maingegenden, die sich vervollständigen“ als Quellen an. Ebenfalls in den Anmerkungen enthalten ist eine Variante, die von Hans Rudolf (von) Schröter (1798-1842) beigesteuert wurde. Schröter war ein in Hannover geborener Bibliothekar und Altertumsforscher, der sich besonders um die großherzogliche Altertumssammlung in Ludwigslust verdient machte.

      In dieser Erzählung wird auch das Schwesterchen von der Stiefmutter verwandelt, in eine Ente nämlich. Es entspinnt sich ein Dialog in Versform zwischen den Geschwistern – Brüderchen möchte errettet werden, Schwesterchen bittet um Geduld. Auch nach den Lieben fragt das verzauberte Mädchen in Form eines Verses. In der Küche spricht es zum Koch die Worte:

      „Was machen meine Mädchen, spinnen sie noch?

      Was macht mein Glöckchen, klingt es noch?

      Was macht mein kleiner Sohn, lacht er noch?“

      Der Koch antwortet:

      „Deine Mädchen spinnen nicht mehr,

      dein Glöckchen klingt nicht mehr,

      dein kleiner Sohn weint allzusehr.“

      Auffällig ist in diesem Märchen der häufige Bezug zur Frömmigkeit in der Figur des Schwesterchens, das einen starken Gegenpol zur bösen Stiefmutter darstellt. Vergleicht man die Fassungen der Ausgaben von 1812 und 1857, sieht man, dass dieser Gegensatz im Laufe der Zeit von Wilhelm Grimm noch stärker herausgearbeitet wurde (in der ersten Ausgabe beruft sich Schwesterchen nur zu Beginn auf Gott).

      Die Stiefmutter ist in der späteren Version noch wesentlich „hexenartiger“ dargestellt, als in der von 1812. Sie geht den Kindern nicht mehr bloß nach, sondern schleicht, wie Hexen es tun und schafft nicht mehr nur eine verwunschene Quelle, sondern verwünscht gleich sämtliche Quellen im Wald.

      Ihr und der hässlichen Tochter wird in der Fassung von 1857 mehr Raum gegeben. Das Ende der beiden Bösewichte ist allerdings in beiden Versionen gleich.

      Die Fassung des Märchens in der ersten Ausgabe der KHM ist wesentlich rudimentärer. Brüderchen trinkt gleich von der einen Quelle, die die Stiefmutter hergezaubert hat und wird verwandelt und der König stößt auf der Jagd schlicht auf Mädchen und Reh, die im Wald in einer Höhle leben und nimmt beide mit.

      Die Jagdepisode scheint, laut den Anmerkungen einer der beiden zugrundeliegenden Erzählungen gefehlt zu haben. Die drei Quellen, die Brüderchen in unterschiedliche Tiere zu verwandeln drohen, sind als Motiv im Anhang zur Ausgabe von 1812 zu finden, mit dem Hinweis, das diese Geschichte nur als Fragment bekannt sei.

      Auch an diesem Märchen kann man die Bearbeitungsschritte der Märchensammler gut ablesen, die nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich erst den Kanon und die Erzählungen geschaffen haben, die uns heute als so selbstverständlich erscheinen.

       Was macht die Stiefmutter böse

      Wieso tun Menschen böse Dinge? Diese Frage bewegte wohl schon immer den Menschen. Und sie ist bis in unsere Tage aktuell. Die moderne Psychologie hat hierfür im Grunde zwei große Modelle, die einander mehr oder weniger unversöhnlich gegenüber stehen.

      Auf der einen Seite gibt es diejenigen Psychologen, die behaupten, dass jeder von uns dazu in der Lage und Willens wäre, etwas Böses zu tun, wenn nur der Rahmen entsprechend wäre. Sie berufen sich dabei unter anderem auf einen Versuch zum Autoritätsgehorsam, bei der die überwiegende Anzahl der Versuchspersonen bereit gewesen wäre selbst tödliche Stromschläge einer ihnen unbekannten Dritten Person zuzufügen, wenn der Versuchsleiter eben dies (aus gutem Grund) verlangte1. In einem anderen bekannten Versuch steckte der US-Psychologe seine Versuchspersonen in ein gefaktes Gefängnis, teilte sie zufällig in Häftlinge und Wärter auf, und musste schließlich den Versuch abbrechen, weil die Wärter die Häftlinge anfingen massiv zu misshandeln. Gerade Zimbardo formte in den Folgejahren ein Modell, das im Kern besagt, dass jeder zu einer Bestie werden kann und wandte dies unter anderem auf den unsagbar brutalen Völkermord in Ruanda an. Dabei erschienen ihm als Schlüssel zu diesen Situationen die Entmenschlichung des Gegenübers, autoritäre Strukturen und Klarheit der Anweisungen.

      Auf der anderen Seite glaubt man, dass es etwas gibt, das Menschen unterscheidet, und einige Menschen zu bösen Taten treibt, andere nicht. Anders als religiös verwurzelte Personen glauben Psychologen dabei nicht an so etwas wie einen Seele, die vom Teufel verdorben wird, sondern sprechen generell von der individuellen Persönlichkeit. Diese besteht wiederum aus verschiedenen Persönlichkeitseigenschaften, die, so der statistische Glaube2, normal verteilt sind. Das bedeutet eine mittlere Ausprägung einer Persönlichkeitseigenschaft ist am häufigsten, genau genommen zu knapp 67% vorhanden. Diejenigen Personen, die eine Ausprägung in den extremsten knapp 5% haben, gelten uns dann als psychisch gestört. Und eine solche Persönlichkeitseigenschaft soll auch die „Psychopathie“ sein, die sich eben genau durch das auszeichnet, was „dem Bösen“ am nächsten kommt: die Unfähigkeit, die eigenen Bedürfnisse unterzuordnen, bei maximaler Bereitschaft, sich sein Verlangen zu erfüllen, koste es (die Anderen), was es wolle, gepaart mit emotionaler Kälte und der Fähigkeit, große Brutalität anzuwenden.

      In gewisser Weise haben wir hier einen Streit, den wir öfter in der Psychologie finden, nämlich ob Anlage oder Umwelt das Wesen eines Menschen bestimmt. Was aber hat das mit dem Märchen „Brüderchen und Schwesterchen“ zu tun? Vielleicht ja nichts, ich glaube aber schon einiges. (Sonst hätte ich Ihnen die ersten beiden Absätze ja wohl kaum zugemutet.)

      Ausgangspunkt meiner Überlegungen war: was ist denn bitte die Stiefmutter für eine doofe Person? Dann fiel mir auf, dass wir über den Vater des Geschwisterpaares gar nichts erfahren. Wirklich nichts. Wir erfahren lediglich, dass die Stiefmutter eine eigene Tochter hatte, die „hässlich war wie die Nacht, und nur ein Auge“ hatte. Nun, Schönheit liegt sicherlich im Auge3 des Betrachters, und davon hat die eben jene Tochter ja nur eines4, wir wissen auch nicht, was mit dem anderen Auge der Tochter passiert ist. Allerdings wirkt es aus unserem heutigen Blickwinkel5 als genetische Komponente, die die Tochter von ihrer bösen Mutter erhalten hat. Also: kein Wort zum Vater. Interessant ist auch, dass die Motivation der Stiefmutter eine andere ist, als bei HÄNSEL UND GRETHEL. Dort werden zwei Kinder ausgesetzt, weil das Essen nicht für alle reichte, auch hier haben wir es mit einer Stiefmutter zu tun6. Während dort jedoch die Stiefmutter und der Vater selbst mit ihrer Entscheidung zu kämpfen haben, liegt der Fall bei BRÜDERCHEN UND SCHWESTERCHEN ganz anders. Wir erfahren, dass die Stiefmutter eine böse Hexe ist, die nachhaltig schaden will – aus „Neid und Mißgunst“. Sie scheint also nicht anders zu können, als böse zu handeln, ein Charakterzug, den wir bei Hexen im Märchen fast ausschließlich antreffen.

      Die Aussage ist klar: es gibt Menschen, die sind einfach nur schlecht. Und auch ihre Nachkommenschaft ist zwangsläufig schlecht. Sie können einfach nicht aus „ihrer Haut“, oder wie wir heute sagen würden: sie tragen stabile Persönlichkeitseigenschaften in sich, die sie vielleicht ein kleines Stückchen, aber nie grundlegend ändern können. Solchen Straftätern attestieren wir heute „schädliche Neigungen“, sie gelten vielen als untherapierbar und werden immer noch „in Sicherungsverwahrung“ gebracht. Medien sprechen von ihnen als „Bestien“, Politiker fordern immer wieder drakonische Strafen für sie. Insofern dürfte das Ende

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