Goethes Autorität. Gustav Seibt
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Die Ungeheuerlichkeit der Flucht auf die Dornburg hat Albrecht Schöne in einem der bedeutendsten Texte, die je über Goethe geschrieben wurden, ans Licht gehoben. Dass der Brief, den Goethe drei Tage nach seiner Ankunft auf dieser »Felsenburg« (so Goethe an Knebel) an Zelter schrieb – ihr gilt Schönes Abhandlung –, gleichwohl eine der »großen Antworten des Menschen auf die menschliche Sterblichkeit« ist, hat dessen Auslegung unwiderleglich zur Anschauung gebracht.
Ähnliches könnte man von dem langen Schreiben sagen, mit dem Goethe wenige Tage nach seinem ersten Dornburger Brief an Zelter dem Kammerherren von Beulwitz, also eigentlich dem neuen Großherzog Carl Friedrich und seiner Frau Maria Paulowna, antwortete. Auch dieser Brief – Goethe schrieb und feilte vier Tage an ihm, vom 14. bis zum 18. Juli 1828 – ist keine Kondolenz. Er ist vieles in einem, zeremoniöses Huldigungsschreiben, Lebensresümee und Ermahnung, nicht zuletzt kann er als Goethes politisches Testament begriffen werden. Der Brief an Beulwitz, dessen schwarzumrandetes Konzept Goethe Eckermann noch zweieinhalb Jahre später in einer feierlichen Stunde zu lesen gab, antwortet auf eigene, unverkennbare Weise auf den Tod. Denn er handelt von der historischen Zeit und entwickelt dabei eine Anschauung von menschlicher Geschichte insgesamt. Goethes Text lässt sich überraschenderweise auf eine der bedeutendsten und folgenreichsten Abhandlungen der Geschichtwissenschaft des 20. Jahrhunderts beziehen, auf Fernand Braudels Theorie der historischen Zeiten. Er erlaubt uns Heutigen also die Frage, wo Goethes Geschichtsbegriff im Spektrum der uns zugänglichen historischen Erfahrungen steht.
Der Anfang sei bei Braudel genommen. Dieser hat 1958 im Oktober-Heft der Zeitschrift »Annales« ein dreistufiges Modell geschichtlicher Zeit entwickelt, das von der Ereignisgeschichte bis zur Strukturgeschichte reicht, von den sichtbaren Geschehnissen der Oberfläche wie Kriegen, Feuersbrünsten, Eisenbahnkatastrophen, Verbrechen und Theateraufführungen bis zu den grundlegenden, auf natürlichen Bedingungen ruhenden Ordnungen des Daseins, der Wirtschafts- und Herrschaftsbeziehungen, der Weltbilder und Mentalitäten. Auf dem einen Pol also die Vergangenheit als Meer kleinerer oder größerer Fakten, als Stoff für Chronisten und Journalisten, bewegt durch diplomatische Depeschen, Parlamentsreden oder militärische Befehle; am anderen Ende die »longue durée«, die zähe Kohärenz »halber Unbeweglichkeiten«, bedingt etwa durch den Zwang der Geographie und des Klimas, der Siedlungsgeschichte, der Lage an den Küsten oder im Binnenland, aber auch durch bildungsgeschichtliche und religiöse Prägungen der Kultur. Hier Jahreszahlen und Aktionen, dort Formationen wie »Feudalismus«, »Handelskapitalismus« oder »lateinisches Mittelalter« und »aristotelisches Weltbild«.
Zwischen diesen beiden Polen unterscheidet der französische Historiker noch eine mittlere Ebene, auf der sich die Arbeit der Generationen abspielt, in Bevölkerungsschwankungen, Preis- und Zinskurven, Lohnbewegungen, Produktionssteigerungen, Konjunkturen und Depressionen. Als Beispiel nennt Braudel die Entwicklung der Preise, die in Europa zwischen 1791 und 1817 fast nur stiegen, während sie von 1817 bis 1852 fielen. Auch die Wissenschaften und Techniken haben solche Konjunkturen mittlerer, annähernd lebenszeitlicher Dimension, und da hätte Braudel vor allem auch den ganzen Bereich der Literatur- und Kunstgeschichte mit ihren wechselnden Stilen und Moden nennen können. Wer die Beispiele des französischen Historikers sortiert, kann für dessen drei historische Rhythmen annähernd drei Gegenstandsbereiche der Geschichte auseinanderhalten: Krieg und politisch-diplomatisches Handeln spielen sich auf der Ebene der Ereignisgeschichte ab, Bevölkerungs-, Wirtschafts-, Kultur- und Technikgeschichte im Modus der Konjunkturen und Generationen. Die Geschichte von Landschaften und Herrschaftsformen, von Institutionen, zum Beispiel auch der Kirchen, oder der Sitten und Gebräuche aber in den Riesenwogen der »longue durée«.
Es versteht sich aber von selbst, dass diese Sphären sich nicht reinlich trennen lassen, vor allem aber, dass sie von Fall zu Fall ineinandergreifen. So kann eine länger vorbereitete technische Entwicklung, beispielsweise die Handfeuerwaffe, auf einmal ganz punktuell einen Krieg entscheiden und in längerer Wirkung eine ganze Herrschaftsordnung umstürzen. Der Buchdruck gehört zweifellos zu den konjunkturellen Ereignissen, die in beide Richtungen ausstrahlten – ereignisgeschichtlich ermöglichte er die lauffeuerhafte Ausbreitung der Reformation, strukturgeschichtlich die Entwicklung von Öffentlichkeit im modernen Sinn. Es ist die Aufgabe moderner Historie, solche Ebenen zunächst auseinanderzuhalten, in einem zweiten, entscheidenden Schritt aber auch wieder zusammenzuführen.
Wer Goethes an den Obersten von Beulwitz, eigentlich aber an das Weimarer neue Herrscherpaar gerichteten Brief mit Braudels Unterscheidungen im Kopf liest, wird dort mühelos und in großer Klarheit die drei Zeitebenen unterscheiden können. Das beginnt schon damit, dass die Epistel auf ein einschneidendes, den Absender wie die Empfänger gleichermaßen tief berührendes Ereignis reagiert, den Tod des Landesherren. Und es endet damit, dass der Brief zu einem großen, ja fast überwiegenden Teil mit Schilderungen von Örtlichkeiten und Landschaften gefüllt ist; wie schon der erste Dornburger Brief an Zelter enthält er eine ruhige, weit ausschwingende Darstellung der Dornburger Schlösser und der von dieser »Zinne« aus überblickten Umgebung. Damit sind die beiden äußeren Zeitpole markiert, der schockhafte Verlust eines Menschen durch den Tod einerseits und die tröstend dagegengesetzte Dauerhaftigkeit einer vom Menschen nur mitgeschaffenen Landesnatur andererseits.
Goethe beginnt seinen Brief fast herausfordernd mit einem zur Freude aufrufenden Zitat, nämlich der Inschrift über dem Portal zu dem südlichsten der drei Dornburger Schlösser: »Freudig trete herein und froh entferne dich wieder! / Ziehst du als Wandrer vorbei, segne die Pfade dir Gott.« So lautet seine Übersetzung des lateinischen Distichons. Es gibt ihm zusammen mit der schönen architektonisch-plastischen Einfassung der Tür »die Überzeugung, daß vor länger als zweyhundert Jahren gebildete Menschen hier gewirkt, daß ein allgemeines Wohlwollen hier zu Hause gewesen«. Der Vers ruft in Goethe die Erinnerung hervor, »gerade ein so einladend-segnendes Motto sey durch eine Reihe von mehr als funfzig Jahren der Wahlspruch meines verewigten Herrn gewesen«: »Hier schien es also, daß ich abermals bey ihm einkehre als dem wohlwollenden Eigenthümer dieses uralten Hauses, als dem Nachfolger und Repräsentanten aller vorigen gastfreyen und also auch selbst behaglichen Besitzer.«
Das ist der erste Einspruch gegen den Tod in diesem Text, die Vergegenwärtigung des Kommens und Gehens der Generationen im gemeinsamen Zeichen von Wohlwollen und Bildung. Der Verstorbene geht ein in diese Kette. Im nächsten Schritt erweitert Goethe das durch die Aufzählung der drei Dornburger Schlösser, die für drei Epochen der Geschichte stehen. Alle drei sind sie hingestellt auf eine schroffe Felskante, doch jedes zeigt ein anderes zeitliches Gesicht: Am nördlichen Ende »ein hohes, altes, unregelmäßig-weitläufiges Schloß, große Säle zu kaiserlichen Pfalztagen umschließend, nicht weniger genugsame Räume zu ritterlicher Wohnung; es ruht auf starken Mauern zu Schutz und Trutz.« Hier wird das Hochmittelalter zum Bild. Weiter südlich aber steht ein »heiteres Lustschloß neuerer Zeit, zu anständigster Hofhaltung und Genuß in günstiger Jahreszeit«, also das kleine Rokoko-Schlösschen von Carl Augusts Vorgänger Ernst August aus den Jahren um 1750. Am südlichsten Ende dann ein Renaissance-Bau, das sogenannte Freigut, in dem Goethe selbst wohnt und seinen Brief schreibt und dessen Portalinschrift er eingangs zitiert hatte.
In dieser epochal rhythmisierten Abfolge – Mittelalter, Renaissance, Rokoko – aber werden die drei Schlösser Goethe zu einem »erwünschten Symbol« für geschichtlich wandelbare Kontinuität, und zwar einer »für alle Zeiten ruhigen Folge bestätigten Daseyns und genießenden Behagens«. Hier erfährt sein bekümmertes Gemüt die Tröstung, »die vernünftige Welt sey von Geschlecht zu Geschlecht auf ein folgereiches Thun entschieden angewiesen«.
Nach solcher Vergegenwärtigung des Kommens und Gehens der Generationen, ihrer Baustile und Bildungsformen bei gleichbleibendem Wohlwollen, also dessen, was Braudel »Konjunkturen« nennt, geht der Blick des Briefschreibers in noch weitere Ferne auf die umgebende Landschaft. Wie in einer Luftaufnahme zeigt sich ihm die dauerhafte Landkarte der in die Natur eingebetteten Kultur: »Ich sehe zu Dörfern versammelte ländliche Wohnsitze, durch