Opfer Patient. Dieter Wissgott

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Opfer Patient - Dieter Wissgott

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      Eine Befragung von Irmgard W. im Jahre 2012, zwanzig Jahre nach dem Tod ihres Mannes, hat gezeigt, wieviel Bitterkeit aus dem Verfahren zurückgeblieben ist.

      Die stundenlange Weigerung des Arztes, den erbetenen Hausbesuch durchzuführen, hat die Familie zerstört und Frau W. trotz der Entschädigung in finanzielle Bedrängnis gebracht. Die Ehe war kinderlos. Frau W. hatte unmittelbar vor den tragischen Ereignissen das von ihren Eltern ererbte Wohnhaus saniert und umgebaut. Die aufgenommenen Baudarlehen konnten mit der im Zivilprozess erstrittenen Entschädigung teilweise getilgt werden. Frau W. hatte aber auch den behindertengerechten Umbau des Erdgeschosses in Auftrag gegeben, weil sie davon ausging, dass ihr Mann auf den Rollstuhl angewiesen sein würde. Die dadurch entstanden Kosten konnte sie nicht mehr zügig abtragen, weil sich der Rentenanspruch nach dem Tod des Ehemanns reduzierte.

      Das Wohnhaus ist inzwischen sanierungsbedürftig. Eine neue Kanalisation muss verlegt werden, am Dach stehen Reparaturarbeiten an. Das alles muss Frau W. von den Renteneinkommen finanzieren, das sie inzwischen erhält. »Ich frage mich immer wieder, welchen Sinn das alles noch hat. Mein Mann ist jetzt zwanzig Jahre tot, Kinder haben wir nicht. Was ich mit aller Kraft noch zur Sanierung in das Haus stecke, kommt eines Tages unter den Hammer. Ich kann mir kaum etwas leisten und habe seit zwanzig Jahren keinen Urlaub mehr gemacht. Ich gehe nirgendwo hin und warte nur darauf, dass ich eines Tages erlöst werde. Mein Leben hat seit dem Tod meines Mannes keinen Sinn mehr. Wir haben uns so auf den gemeinsamen Lebensabend gefreut. Das ist alles vorbei. Alles das können weder die Bestrafung des Arztes noch der Schadensersatz wiedergutmachen.«

      Folgen dieser Art werden im Gedanken des Schadensersatzes nicht angemessen berücksichtigt. Man sollte die üblichen Parameter überdenken.

      Medizinrechtlich war das Verhalten des Bereitschaftsarztes eine eklatante Verletzung des hippokratischen Eids. Eine Ferndiagnose bei einem unbekannten Patienten, ohne Kenntnis von Vorerkrankungen und Vorbefunden, ist schlicht unzulässig und verstößt gegen Grundregeln der Humanität.

      Man sollte meinen, dass solche Fälle den Entzug der Approbation zur Folge haben. Weit gefehlt: Zuständig dafür sind nicht die Straf- oder Zivilgerichte, sondern Ärztekammern und Berufsgerichte. Das sind erfahrungsgemäß stumpfe Schwerter. Es ist nicht bekannt geworden, ob die Approbation des Bereitschaftsarztes Dr. St. je in Zweifel gezogen wurde. Er war nur gezwungen, seine Praxis aufgrund der Publizität des Falls in eine andere norddeutsche Stadt zu verlegen. Man kann nicht davon ausgehen, dass er aus dem Vorgang gelernt hat. Das Schöffengericht hatte ihm in dem zitierten Urteil noch völlige Uneinsichtigkeit bescheinigt.

      Die geplatzte Hauptschlagader

      Dr. Robert H., Jahrgang 1963, Privatdozent mit bevorstehender Berufung auf den Lehrstuhl für Experimentalphysik, war ein kerngesunder, sportlich aktiver Mann, ein treusorgender Familienvater von vier Kindern im Alter von elf, neun, fünf und zwei Jahren. In den frühen Abendstunden des 9. Juni 2003, einem Pfingstmontag, hatte er im Keller seines Hauses Bastelarbeiten verrichtet. Er kehrte gegen zehn Uhr abends in seine Wohnung zurück, nachdem er sich mit einem Nachbarn längere Zeit bei offensichtlichem Wohlergehen unterhalten hatte.

      Kurz darauf versagten ihm die Beine und er brach in der Wohnung zusammen. Seine hinzugeeilte Ehefrau bemerkte Blässe im Gesicht, Schocksymptome und Schüttelfrost mit kaltem Schweiß auf Stirn und Brust. Der herbeigerufene Rettungswagen traf in weniger als zehn Minuten ein. Der Notarzt, ein Gastroenterologe, fand Robert H. auf dem Fußboden liegend. Er war ansprechbar. Der Arzt fertigte ein EKG an und gab ihm eine Infusion. Nach Messung von Puls und Blutdruck stellte er einen schlechten Kreislaufzustand und eine kreisförmige Blauverfärbung fest. Der Patient klagte über Übelkeit und hatte sich erbrochen. Der Arzt stellte fest, dass er sich eingenässt hatte und in kurzen Abständen über beginnenden Brustschmerz und kurze Luftnot klagte.

      Der Notarzt nahm den Patienten zur stationären Behandlung mit. Die Klinik war nur ein paar hundert Meter entfernt, die Fahrt dauerte also nur wenige Minuten. In der Ersten Hilfe entschloss er sich zusammen mit einer diensthabenden Ärztin, Robert H. auf die Intensivstation zu verlegen. Er kreuzte auf dem Einsatzprotokoll unter anderem an, dass »Lebensgefahr nicht auszuschließen« sei. Dieses Berichtsformular wurde zusammen mit dem Patienten dem Arzt auf der Intensivstation übergeben.

      Der diensttuende Arzt, ein Facharzt für Innere Medizin, hatte eine Ausbildung in Rettungsmedizin absolviert, war aber nur als Halbtagskraft eingesetzt. Er praktizierte zusätzlich als niedergelassener Arzt für Psychotherapie. Offenbar war er der einzige, auf den man während der Pfingstfeiertage zurückgreifen konnte.

      Zur weiteren Diagnostik heißt es im Bericht des Intensivmediziners, dass eine Infusionstherapie mit zwei unterschiedlichen Infusionslösungen durchgeführt wurde. Dadurch sei ein deutlicher Anstieg des Blutdrucks erreicht worden. Der Allgemeinzustand des Patienten habe sich verbessert, er habe aber weiter über Rückenschmerzen und ein Engegefühl in der Brust geklagt. Die Ultraschalluntersuchung des Bauchraums habe keine Auffälligkeiten ergeben, die Hauptschlagader habe sich als unauffällig dargestellt. Nach dem Bericht war auch keine Flüssigkeit im Herzbeutel erkennbar, die Laborwerte waren bis auf eine Erniedrigung des Kaliumspiegels und etwas erhöhter weißer Blutkörperchen regelrecht.

      Der Arzt hat also das Herz ohne krankhaften Befund eingestuft und keinen Pericarderguss (Ansammlung von Flüssigkeit im Herzbeutel) festgestellt. Diese Befundung wurde, wie er bei späterer Befragung im Strafprozess erklärte, aufgrund einer »orientierenden« Sonographie (Ultraschalldiagnostik) des Abdomens (Bauches) erstellt. Auf die Frage, was darunter zu verstehen sei, räumte der Arzt ein, er habe den Patienten »abgehorcht«. Damit nicht genug: Die dokumentierte Diagnostik weist aus, dass keine Röntgenaufnahme des Brustkorbs erfolgt ist, obgleich sie dringendst angezeigt war.

      Ein Medizinstudent, der im Staatsexamen bei diesem klinischen Bild keine weitere Befunderhebung durch Aufnahmen des Brustkorbs für erforderlich hält, braucht das Examen nicht fortzusetzen. Auf dem Röntgenbild wäre klar zu erkennen gewesen, dass die Hauptschlagader im Thoraxbereich eine deutliche Ausweitung aufwies. Die Diagnose hatte ein sogenanntes Aneurysma (Ausweitung eines arteriellen Blutgefäßes) feststellen müssen. Bei weiteren Abklärungen hätte dann durch kardiale Ultraschalldiagnostik und Computertomographie der Brustorgane der aktuelle Zustand des Aneurysmas eingegrenzt und bestimmt werden können, mit der daraus sich ergebenden Konsequenz, den Patienten sofort zur Notoperation in das nahegelegene Deutsche Herzzentrum zu bringen – ein Transportweg von zwanzig Minuten!

      All diese im Hause der Zentralklinik leicht durchführbaren Abklärungen sind aus Unkenntnis oder Gleichgültigkeit unterblieben.

      Robert H. überlebte noch die gesamte anschließende Nacht. Bei der Übergabevisite am Morgen des nächsten Tages, etwa um 7.50 Uhr, wurde er schweißig und mit deutlich erniedrigten Blutdruckwerten angetroffen. Er klagte erneut über starke Rückenschmerzen. Die erst jetzt durchgeführte Echokardiographie zeigte das Vorliegen einer das gesamte Herz umgebenden Flüssigkeitsansammlung (sogenannter Pericarderguss) und eine Erweiterung des Querschnitts der Körperschlagader im Abgangsbereich aus dem Herzen auf mehr als fünf Zentimeter an (normal: zweieinhalb bis drei Zentimeter). Eine nun sofort vorgenommene Computertomographie der Brustorgane unter Kontrastmittelgabe bestätigte ein Aneurysma der Aorta mit großem blutigem Herzbeutelerguss.

      Der Patient wurde trotz eilig durchgeführter Sofortmaßnahmen kurz darauf instabil und ließ eine starke Erweiterung und Lichtstarrheit der Pupillen erkennen, was typisch für eine inzwischen eingetretene irreversible Hirnschädigung ist. Die anschließenden Wiederbelebungsmaßnahmen wurden nach knapp einer Stunde erfolglos beendet. Der Patient verstarb um 9.20 Uhr.

      Dem couragierten Engagement der Ehefrau ist es zu verdanken, dass ihr Gatte obduziert wurde. Aufgrund der Obduktionsergebnisse konnten dann Gutachten in Auftrag gegeben werden. Eine zunächst eingeschaltete Anwaltskanzlei

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