Das Geheimnis der goldenen Brücke. Michael Kunz
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Dies alles nimmt seinen Anfang an unserem ersten Schultag. Mit Stolz tragen wir unsere bunte Schultüte, die nicht zufällig die Form eines kegelförmigen Filters besitzt. Es ist eine Mahnung an uns, das Leben in kleinen Schritten zu bewältigen. Schließlich schneiden wir einen Kuchen auch erst in Scheiben, bevor wir ihn verzehren. Aber eine Mahnung ersetzt natürlich nicht die Erfahrung und was kann wohl schmerzlicher sein, als festzustellen, dass das Leben eine einzige Verpflichtung ist?
Nun, ich will es euch gerne verraten: Es ist die Farbe der Hilflosigkeit.
*
Der Schulgong läutete zum Ende der letzten Stunde. Die Kinder standen auf, zeigten einander ein paar Bilder, steckten ihre Malstifte in ihre Federmäppchen, Stuhlbeine schleiften knarrend über den Fußboden, mit Klick! und Klack! schnalzten die Verschlüsse der Schulranzen zu, die Kinder verließen plappernd das Klassenzimmer, das aufgeregte Schnattern verstummte langsam und hinterließ schließlich eine leere Stille im Raum. Nun ja, nicht ganz. Leichtfüßig pendelte ein Malstift über einem Blatt Papier, über das Peter gebeugt war. Er war der Letzte.
„Du kannst es zu Hause fertig malen“, meinte die Lehrerin behutsam.
„Ich bin... schon fertig!“ Peter wühlte alle Gegenstände auf seinem Tisch zu einem Häufchen zusammen, schob sie wie Brotkrümel in seine Schultasche, die er mit einem Klack! zumachte, auf seinen Rücken schwang, um sich dann mit seinen dünnen Armen durch die Schlaufen zu wühlen. Etwas unbeholfen, wie die Lehrerin feststellte. Anschließend lief er hinaus, durch den Gang, die Treppe hinunter, riss die Eingangstür auf, als ob er um sein Leben rannte und eilte mit kindlichem Übermut auf Anna zu, die bereits auf ihn wartete, ihn nun erkannte, in die Hocke ging und die Arme weit ausbreitete, damit er nicht an ihr vorbei flog.
„Na, wie war dein erster Schultag?“, begrüßte sie ihn, aber Peter war völlig außer Atem und japste nur etwas wie: „Muss ich das schwere Ding jetzt jeden Tag tragen?“ Dabei deutete er mit einem Daumen auf den Schulranzen.
„Wenn du etwas lernen willst, dann ja. Was hast du denn da in der Hand?“ Anna streckte ihre beiden Hände aus und ergriff ein Blatt Papier, das Peter in der rechten Hand hielt.
„Das Bild haben wir heute gemalt. Wir sollten eine Geschichte mit Menschen malen, die wir lieb haben“, erklärte er schließlich, nachdem Anna das Bild einen Moment stillschweigend betrachtet hatte.
„Lass mich raten, das bin ich, stimmt’s?“, lachte sie plötzlich, es schien, als hätte sie sich erst jetzt auf dem Foto erkannt.
„Genau! Und das da ist Papa.“ Peter machte einen Fingerzeig auf eine rundliche Gestalt im Bild, an den Beinchen waren braune Stiefeletten, auf seinem Kopf ruhte sich ein Hut aus, der aber klein genug war, um ihn zweimal nebeneinander aufzusetzen.
„Der hat aber einen großen Kopf. Der ist ja größer als sein Bauch.“
„Das hat meine Lehrerin auch gesagt. Da hab’ ich gesagt: Ja, weil er sich gerade ärgert.“
„Jetzt verstehe ich auch, warum sein Kopf so rot ist“, schmunzelte Anna und strich Peter liebevoll durch das Haar.
„Nein, das ist sein Sonnenbrand, den er doch letzten Sonntag bekommen hat. Deswegen ärgert er sich ja auch so, weil du ihm zu wenig Sonnencreme ins Gesicht geschmiert hast.“
„Soso, das hast du dir also gleich zum Thema deines kleinen Kunstwerkes gemacht!“
Anna war eine bildhübsche Frau. Ihr brünettes, gepflegtes Haar war glatt gekämmt und bedeckte Nacken und Rücken bis auf die Höhe der Schultergürtel. Mag sein, dass ihre Bewegungen etwas kantig wirkten, weil ihr der Beruf als Physikerin eine ausgeprägte Entschlossenheit und Zielstrebigkeit abverlangte. Mag auch sein, dass ihre Stimme aus genau diesem Grund sehr verbindlich klang. Und es mag vielleicht sogar sein, dass ihr die humorvolle und völlig unkomplizierte Art eine sehr lebenslustige Ausstrahlung verlieh. Aber eines war ganz gewiss: Ihr Lachen bezauberte ausnahmslos jeden Menschen durch seine Heiterkeit. Es wirkte derart anschmiegsam und herzlich, dass manch einer nicht einzuordnen vermochte, ob er nun mehr ihre dunklen Augen unter ihren elegant geschwungenen Augenbrauen oder eher ihren schmalen und mit Sicherheit auch sehr verführerischen Mund bewundern sollte. Deswegen ergab es sich, dass ihre schlanke und sehr sportliche Figur häufig erst auf den zweiten Blick auffiel. Aber trotzdem ließ ihr Auftreten in keinem Augenblick vermuten, dass sie sich bereits seit einigen Jahren in Karate übte, eine Kampfkunst, die ihre Denkweise sehr stark geprägt hatte.
„Wo hast du denn diese Schramme her?“ Anna begutachtete die roten Kratzer auf seiner Stirn. Sie konnte sich nicht entsinnen, dass er diese Verletzung heute Morgen schon hatte.
„Auf dem Pausenhof haben sie mich geschubst, von hinten, weißt du? Da bin ich gestolpert und auf das Pflaster gestürzt. Dann haben sie gelacht, ganz doofe Jungs waren das. Der Lehrer ist dazwischen gegangen und hat ihnen gesagt, dass sie was erleben können.“
„Meine Güte! Sag mir, wer das war! Die werden morgen ihr blaues Wunder erleben!“
„Ich kenne diese Schüler nicht, sie sind älter als ich. Ich weiß nur, dass es drei Jungs waren. Einen nannten sie Mirko.“
„Schon eigenartig, dass sie gleich zu dritt sein mussten, um es mit dir aufzunehmen. Morgen zeigst du sie mir in der Pause. Ich komme vorbei.“
„Und was, wenn sie dann übermorgen in der Pause...?“
Peter ließ den Satz ins Leere laufen, denn er hatte Angst, seinen Gedanken auszusprechen.
„Dann wird es für diese drei Typen auf diesem Pausenhof keinen Tag nach Übermorgen geben, das verspreche ich dir!“
„Mama, ich wünschte ich wäre groß und erwachsen. Dann könnte ich mich besser wehren gegen diesen Mirko und die anderen.“ Seine Augen wurden feucht und rot. Peter erlöste sich von der Träne mit einem Lidschlag und dann ergoss sich eine kristallene Perle auf seiner Wange und verlor erst ihren Halt, als sie das Kinn erreicht hatte.
Anna fasste Peters Kopf mit der freien Hand und drückte ihn tröstend an ihren Bauch: „Es bringt gar nichts, sich zu wünschen, älter zu sein. Wenn du nämlich groß bist, dann ist Mirko auch groß. Glaube mir, auf dieser Welt gibt es viele Mirkos, dein ganzes Leben lang werden sie dir über den Weg laufen.“
„Kennst du auch einen Mirko?“, wollte Peter wissen, aber es war eher die kindliche Neugier, die ihn zu dieser Frage trieb, als eine Schlussfolgerung aus dem Gesagten, das sich eigentlich mehr wie eine Anspielung als ein Ratschlag anhörte. Deswegen darf es nicht verwundern, dass ihre Antwort wie selbstverständlich klang: „Und ob!“ Sie betonte diesen Ausruf mit einer unerschütterlichen Gewissheit und wiederholte ihn noch einmal, diesmal aber etwas langsamer und ernster. „Ich kenne sogar viele Mirkos.“
Es folgte Schweigen. Kein betretenes, wie man es zum Beispiel erdulden muss, wenn man nach einer Begrüßung und einem Wortwechsel über das Wetter nur noch Leere und Verlegenheit verspürt. Nein, dieses Schweigen war mehr ein zeitgebendes, um das Gesagte wie eine Medizin im Körper ausströmen zu lassen.
In ihren Erinnerungen versunken, fühlte sich Anna plötzlich in ihre eigene Vergangenheit zurückversetzt. Sie hatte damals nicht gekämpft und war stattdessen ihrem Wunschdenken nachgehangen, dass sie sich, einmal älter geworden, gegen jeden Widersacher zur