Mit dem letzten Zug. B. Horst Feuer

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Mit dem letzten Zug - B. Horst Feuer

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eingeschult worden und verbrachten im ersten Sommer manchen Nachmittag miteinander. Sie waren viel draußen, waren am Bach und auf den Feldern zur Turnhalle, und eines Tages, es war heiß und nach dem Baden hatten sie fast nichts an, erkundeten sie in einem Kornfeld gegenseitig ihre geschlechtlich unterschiedlichen Körperregionen. Mit einem Strohhalm erforschte er ihre Scham und fand alles neu, interessant und kribbelig.

      Es passierte auch nie mehr und alles war gut. Bis, ja bis die Sache mit der Beichte über ihn kam. Immer und immer wieder hackte der Pfarrer auf dem Thema herum und bläute ihnen ein, wie schlimm solche Sachen seien und dass man alles, aber auch wirklich alles, und sei es noch solange her, unbedingt beichten müsse. So war ihm das Erlebte überhaupt erst wieder ins Gedächtnis gekommen. Sein nun erwecktes Gewissen marterte ihn, ließ ihm kaum Luft zum Atmen und doch beschloss er, nie und nimmer etwas von damals preiszugeben.

      Dann kam die erste Beichte. Mit vorbereitetem Zettel begab er sich angstvoll hinter den dusteren Vorhang und leierte wie mit fremder Stimme das Gelernte herunter. Es war unheimlich und er vermied es nach dem Priester hinter dem Holzgitter zu schauen. Auch die ausdrückliche Frage des Pfaffen, ob er auch nichts vergessen habe, bestand er. Froh und erleichtert entkam er dem Halbdunkel, und während er die aufgegebene Buße abbetete, spürte er deutlich die befreiende Wirkung der Beichte, so wie der Pfarrer es immer gesagt hatte.

      Zwei Tage später hatten sie wieder Religionsunterricht, und da geschah es. Kaum war das Gebet gesprochen, holte ihn der Pfarrer nach vorne. Er stellte ihn neben das Pult, machte zwei Schritte in die Klasse, drehte sich ruckartig um, zeigte mit ausgestrecktem Arm auf ihn und schrie: „Da seht ihr einen Sünder, er hat Schlimmes getan und es nicht gebeichtet, er hat den Herrgott betrogen.

      Ich habe euch doch gesagt, was dann passiert, so einem ist nicht zu helfen! Schaut ihn euch an!“

      Ihm schoss das Wasser in die Augen, und Scham und Enttäuschung pulsten in seinem Kopf.

      „Sie hat uns verraten“, schrie es in ihm, „sie hat mich verraten!“ Er rannte zur Tür und zog an der Klinke, die Tür ging nicht auf, er riss und drückte und trat dagegen.

      Schweißgebadet und völlig verstört schreckte er auf, und ihn durchströmten Wut und Unbehagen, und nur langsam konnte er sich wieder beruhigen: „Immer diese alten Geschichten!“

      Am frühen Morgen, schon kurz nach sechs Uhr, er war gerade beim Aufstehen, hörte er laute Stimmen von unten, und als ihm das Mädchen wieder einfiel, rief er nach der Magd, die er hantieren hörte. Weinend und schluchzend berichtete sie ihm, dass das Kind tatsächlich soeben oben, kurz vor dem Wald nach Oberentersbach, ermordet aufgefunden worden sei. Vom Täter gebe es keine Spur, aber das konnte doch nur ein Teufel, ein Unmensch gewesen sein, so einen müsste man gleich totschlagen.

      Das Ganze nahm ihn wirklich mit, er musste sich zusammennehmen, und er dachte an die Italiener und was mit so einem wohl passiert, wenn der den Leuten in die Hände fällt.

      Nach dem Frühstück, das Finkner bedrückt und unruhig zu sich genommen hatte, machte er sich auf den kurzen Weg zum Bahnhof. Es waren viele Leute unterwegs und auf den Gassen, es herrschte eine angespannte und feindselige Stimmung, überall wurden die wüstesten Drohungen gegen den Täter ausgestoßen. Die Polizei hatte wohl die ersten Verhaftungen vorgenommen, und spätestens als er im Zug saß und nach Biberach fuhr, fragte er sich schon, warum er so einfach davon konnte. Er hätte wirklich der Täter sein können; und nur, weil der Wirt ihn den Gästen gegenüber verteidigt hatte, war er außer Verdacht? Also da kamen ihm dann schon ein paar Gedanken, aber dies alles konnte ihm ja nur recht sein. Er fühlte sich nicht wohl, war wie betäubt. Hatte er gestern tatsächlich so viel getrunken oder wurde er krank?

      Der ganze Tag war wie vernebelt, er war nicht recht bei der Arbeit, war unruhig und ertappte sich öfter bei Gedanken an das Verbrechen und er war Gott froh, als die Besichtigungen und Besprechungen in Hornberg endlich vorbei waren.

      Als er am späten Nachmittag auf der Heimfahrt nach Karlsruhe an Biberach vorbeikam, schaute er noch hinein ins Harmersbachtal und nach Zell und fragte sich, ob sie wohl schon einen Täter gefasst hatten.

      Ein, zwei Tage später las er dann daheim in Karlsruhe in den „Badischen Nachrichten“, dass nicht ein Italiener und auch kein Landstreicher, sondern ein Bauernknecht aus der Umgebung der Täter war. Dieser war schon am Vormittag seiner Abfahrt gefasst worden und hatte noch am gleichen Abend die Tat gestanden – na also!

      Die Jahre kamen und gingen, die Zeit lief durch die Uhr, Karriere und Familie gaben Weg und Richtung vor und die starke dienstliche Inanspruchnahme, die Beförderungen, die Familienfeiern, die Enkelkinder und seine steigende öffentliche Bedeutung in Gesellschaft und Kirche und vieles andere mehr sorgten dafür, dass die Erinnerung an die Mordtat, die ja auch gesühnt war, allmählich verblasste und fast aus dem Gedächtnis gedrängt wurde. Finkner hatte auch nie mehr etwas davon gehört, und es war auch gut so, bestimmt.

      Viele Jahre später sollte er mit seiner Gattin an einer gemeinsamen Wallfahrt ihrer Karlsruher Pfarrgemeinde St. Stephan zur größten Wallfahrtkirche Badens „Maria zu den Ketten“ eben in Zell, teilnehmen. Da kamen ihm im Vorfeld wieder sein letzter Besuch und das Verbrechen ins Gedächtnis – das alles war so lange her, daran dachte doch niemand mehr.

      Trotzdem spürte er ein Unbehagen und es sträubte sich in ihm, mit den anderen an diesen Ort zurückzukehren. Er versuchte noch seiner Frau die Sache auszureden, aber sie blieb hartnäckig und gedrängt von den befreundeten anderen Teilnehmern blieb ihm nichts anderes übrig, als sich zu fügen.

      Nach einer offensichtlich lustigen Zugfahrt spazierte die Gesellschaft durch den Storchenturm ins Zeller Städtle, um im „Adler“ zu Mittag zu essen. Finkner erinnerte sich an den Besuch mit Georg Schmider und schaute hinüber zu dem Tisch, an dem sie damals gesessen hatten. Allerlei Gedanken flatterten in seinem Kopf, und er ertappte sich mehrfach, wie er ganz abwesend war.

      Am Nachmittag standen dann die Wallfahrtskirche und eine Messe auf dem Programm. Auf dem Weg dorthin kamen sie durch die Oberstadt, wo nach dem Brand von 1904 rechts und links entlang der Hauptstraße herrlich neue Gebäude im Jugendstil entstanden waren. Auch das Gasthaus „Zum Hirschen“, an dem damals italienische Maurer gearbeitet hatten, stand nun als prächtiges und repräsentatives Gebäude da.

      Während der Predigt empfahl ihnen der Pater mit eindringlichen Worten den Besuch der vor einigen Jahren entstandenen zweiten Wallfahrtsstätte in Zell: dem Bildstock zu Ehren der jungfräulich gestorbenen Märtyrerin Veronika Bucher. Sie fänden ihn am Weg nach Oberentersbach knapp unterhalb des Waldes auf freiem Wiesengelände. Dort würde die reine Jesusnachfolgerin mittlerweile wie eine Heilige verehrt.

      Kein Zweifel, Finkner war sich sicher, das musste das Mädchen sein, das damals vermisst und dann ermordet aufgefunden worden war.

      Natürlich besuchte seine gesamte Gruppe den Bildstock oben am Wald. Die Landschaft, das Kunstwerk mit der Jungfrau und Gottesmutter Maria und das Kommunionbild der kleinen Märtyrerin mit dem darunter stehenden Text des Geschehens ergriffen sie fast ausnahmslos und Wut und Zorn über und gegen den Täter waren deutlich spürbar.

      Ihm kam der Gedanke, dass die Zeit stillgestanden und nur er sich bewegt hatte. Er war gelaufen, aber nicht wirklich vorangekommen.

      Immer deutlicher erkannte, und immer stärker verspürte er ein Bedürfnis, ja bald fast einen Zwang, sich der Sache anzunehmen, Näheres zu erfahren, besonders auch, was aus dem Täter geworden war. Irgendwer wollte schon erfahren haben, dass der Mörder nur neun Jahre Gefängnis erhalten hatte, und sie alle waren darüber empört.

      Er nahm sich fest vor, sich darum zu

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