Karibik ohne Kannibalen. Walter Laufenberg
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Als ich durch die Straßen von Willemstad schlenderte und in die Gesichter der Passanten schaute, glaubte ich, die halbe Welt auf diesem Eiland versammelt zu finden. Nicht nur als Touristen, sondern als Einwohner. Dieses Völkchen Kunterbunt hat das Erdöl angeschwemmt. Dabei waren die Holländer ursprünglich nur am Salz interessiert. Das brauchten sie in Massen zur Kühlung ihrer Fischtransporte. Daneben nahmen sie aber auch gern die finanziellen Segnungen des bereits gut eingeführten Sklavenhandels wahr. Und sie beteiligten sich auch an den üblichen Überfällen auf spanische Schatzschiffe. Doch das ganz große Geschäft war das alles noch nicht. Das begann erst, als im Jahre 1914 in Venezuela am Maracaibo-See riesige Erdölvorräte entdeckt und angezapft wurden. Daraufhin baute die Firma Shell die der südamerikani- schen Küste vorgelagerte Insel Curaçao zu einem gewaltigen Ölstützpunkt aus, wo das Venezuela-Öl verarbeitet und gebunkert wurde. Von Arbeitern, die aus über fünfzig Ländern herbeigeströmt waren. Weil hier Farbige aus ganz Süd- und Mittelamerika die besten Einkommensmöglichkeiten fanden. Kein Wunder, dass sich auf dieser Insel auch eine neue Sprache entwickelt hat, das Papiamento. Eine Umgangssprache, die viele Bestandteile aus dem Holländischen und Spanischen, dem Portugiesischen, Englischen, Französischen und aus diversen westafrikanischen Sprachen enthält, angereichert mit »Okay« und ähnlichen Amerikanismen. Das heißt, wenn die Menschen auf Curaçao den Mund aufmachen, dann kriegt man die typische Weltoffenheit von Curaçao zu hören. Damit ist Curaçao im Kleinen das, was die gesamte Karibik im Großen ist, nämlich ein modernes Babylon: Von Insel zu Insel eine andere offizielle Sprache, dort Spanisch, dort Amerikanisch, da Englisch, da Französisch und hier Holländisch neben allerlei Mischmasch.
Kamen die Indianer vom Festland auf die Insel Curaçao, hinterher auch noch das Erdöl, dann war es nur konsequent, dass unser Schiff nun auf das Festland zusteuerte. Aber bis wir im Hafen von Caracas anlegten, blieb noch genügend Zeit, mir meine Mitreisenden genauer anzusehen.
Da waren wahre Wodkaheroen an Bord. Spät nachts, wenn die braven Reisebürger in ihren Kojen lagen, hockten sie noch in der Neptun-Bar zusammen. Oder auch in der Ukraine-Bar. Und sie tranken immer noch einen. Da wurde geschluckt wie in der ersten Stunde nach der Entlassung aus der Trinkerheilanstalt. Ganz der Verlockung der Minipreise hingegeben. Wer konnte da noch widerstehen? Zumal bei der einmaligen Chance, ohne Angst vor Polizeikontrollen und dem Verlust des Führerscheins sich volllaufen zu lassen. Der Heimweg war ja nicht lang und auf den breiten teppichbelegten Treppen vom obersten bis hinab zum untersten Deck notfalls auch auf allen Vieren zu schaffen. Im Krebsgang. Auf jedem Treppenabsatz stand ein Mädchen vom Personal in Habachtstellung, das bereit war, einem die Tür aufzuhalten.
Fünf Bars hatte unser Schiff. Mir schien fast, die 20 000 Tonnen, von denen voller Stolz die Rede war, seien mit Alkoholika gefüllt. Die Ukraine-Bar auf dem Obersten Deck war nachts so lange geöffnet, wie Gäste kamen. So eine fast zwanzig Meter lange Theke von Steuerbord bis Backbord auf dem obersten Deck war übrigens eine blendende Idee im Sinne der Verkaufsförderung. Dort oben waren natürlich die unvermeidlichen Schwankungen des Schiffs am stärksten. An der Theke standen die durstigen Touristen oft in drei Reihen hintereinander. Ein egalisierendes Gedränge, gegen drei Uhr morgens eine einzige Verbrüderungsorgie. Das lange breite Brett der Theke stand voller Gläser und Flaschen. Da gefiel es dem Genossen Taras Shevchenko, sich einmal etwas heftiger nach Backbord zu verneigen, und mit einem Rutsch waren sämtliche Flaschen und Gläser abgeräumt, begleitet von lautem Klirren und einem gemeinsamen Aufschrei, halb erschrocken, halb belustigt. Ein Serviermädchen nahm dann den Schrubber, der in der Ecke stand, und schob die Scherben unter dem Stuhl in der Ecke zusammen. Es wurde neu bestellt und neu bezahlt und fröhlich gezecht und weiter geredet. Bis unser Schiff es sich einfallen ließ, eine schnelle Verneigung nach Steuerbord vorzuführen, so dass wieder alles futsch war. Auch rechts stand ein Stuhl in der Ecke, unter dem der Scherbenhaufen wuchs. Bei den Preisen war das Wetttrinken mit den Wellen ein köstliches Spiel: 60 Pfennige die Flasche deutsches oder dänisches Bier, 90 Pfennige ein französischer oder armenischer Cognac.
Ich fand das Publikum recht gut gemischt. Von acht bis 82 Jahren reichte das Alter, von billiger Kirmesaufmachung bis zum Nerzjäckchen und der weißen Smokingjacke. Zum Abendessen waren für Herren Jackett und Krawatte vorgeschrieben. Das fand ich erstaunlich für eine Neckermann-Reise. Doch schon am dritten Abend verstieß einer der Herren gegen die Vorschrift. Bald fehlten immer mehr Jacken und Krawatten, und es herrschte eine angenehm lockere Atmosphäre. Was den Vorteil hatte, dass niemand großen Aufwand zeigen konnte. Jetzt hieß das ungeschriebene Gesetz: Bieder, bürgerlich, sportlich leger. Immerhin war die relative Armut der Reisenden abgestuft bis hin zum eigenen Haus auf Teneriffa und der Schuhimportfirma mit 150 Millionen Jahresumsatz, die mein 82-jähriger Tischnachbar besaß. Er und seine Frau lebten also auf entschieden größerem Fuß als ich und meine Frau, was uns aber nicht störte. Wir fanden die Zusammensetzung der Reisegesellschaft sehr angenehm.
Man wurde nicht erdrückt von schwerem Schmuck und steifer Würde. Der Vorteil der ungewöhnlichen Mischung bei dieser Neckermann-Reise lag auf der Hand: Freiere Bewegung.
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