Könige zum Anfassen. Annette Küper
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Heute schnüffelt King ausgiebig an dem dicken Baumstamm der schönsten Linde in unserem Revier. Er umrundet ihn im Schneckentempo, einmal, zweimal und ich schleiche fast auf Zehenspitzen hinter ihm her, um ihn ja nicht aus seiner Konzentration zu bringen. Jetzt rückt er an den Stamm, dreht sich in Markierposition und hebt – das rechte Vorderbein. Nun ja, der Anfang ist gemacht und der Tag noch lang!
Beim nächsten Versuch geht King schon routinierter vor. Eine Buche ist Ziel der Markier-Übung. King macht mit geschickten Drehungen jedem Walzerkönig Konkurrenz, rückt dem Baum ganz dicht zu Leibe, hebt den linken Hinterlauf einige Zentimeter hoch, gerät ins Wanken und fällt um. Verdutzt rappelt er sich wieder auf, schaut erst die Buche, dann mich an, schüttelt sich und hüpft gut gelaunt um mich herum. Wie immer, wenn er mich dazu bringt, laut zu lachen, ist er mit seiner Leistung überaus zufrieden. Stolz beschnüffelt er sein Werk, das immerhin die beachtliche Höhe von 10 Zentimetern aufweist und sich auf einer der Baumwurzeln befindet.
Inzwischen haben wir das Dorf hinter uns gelassen und King bekommt Freilauf. Er liebt es, alle Wege x-mal zu machen, saust ein ganzes Stück voraus, kommt im Tiefflug zu mir zurück, um sofort wieder durchzustarten. Auf einer Bank am Waldrand sitzt ein älterer Herr und genießt mit geschlossenen Augen die Sonne. Kings Interesse gilt aber nicht dem Mann, sondern dem Fuß der Bank. Er wird doch nicht … Doch, er wird! Ich sehe, wie der Hinterlauf angehoben wird, und brülle: »Hier!« Stolz müsste ich sein auf mein Riesenbaby! Wäre ich auch, wenn es nicht vor dem zügigen Zurückkommen noch ein paar Spritzerchen in Richtung menschliches Hosenbein losgelassen hätte. Es gibt wirklich nette Menschen, tolerant und hundefreundlich. Der Herr schmunzelt, besichtigt seine Jeans und stellt lakonisch fest: »Dir fehlt aber noch ein bisschen Übung, mein Kleiner! Keine Sorge, junge Frau, nichts passiert!«
Für den Abend dieses Tages gilt das allerdings nicht mehr. Wir besuchen wie so oft Ares, einen 5 Jahre alten Welshterrier-Rüden und sein Frauchen. King liebt sein kleines Ebenbild sehr, und während wir uns angeregt im Wohnzimmer unterhalten, spielen die Hunde Esszimmertisch-Rundlauf mit Quietsche-Ente und Ringen mit Ganzkörpereinsatz. Kurz bevor ich mich verabschiede, fällt meiner Bekannten eine beachtliche Pfütze auf. »Unglaublich, hat Ares doch tatsächlich meinen Esszimmerschrank markiert. Ich glaube, dein King wird erwachsen und mein Lümmel hält es für notwendig, ihm zu zeigen, wer hier das Sagen hat. Sei froh, dass ich dich dabei nicht erwischt habe, Ares!«
Als ich die leidige Angelegenheit noch einmal genau in Augenschein nehme, fällt mir auf, dass es zwei Markierspuren gibt, die eine Ares-kompatibel, die andere ein ganzes Stück höher. King wird also nicht erst erwachsen, er ist es schon!
Alles meins
Metamorphose
Eine verschwenderische Fülle von Farben und Düften, die Wiesenteppiche voller Miniatursonnen, die sich zu filigranen Fallschirmsternen wandeln, um Millionen neuer Sonnen hervorzubringen, Äste, überschäumt mit weiß-rosa Blüten: ein Frühlingserwachen, das berauscht!
King drängt es dann hinaus in sein Revier, mehr noch als sonst, als wolle er alles auf einmal in sich aufnehmen, was er in den kalten Monaten entbehren musste. Stundenlang streift er mit mir durch die frisch belebte Natur, erkundet sein Revier so, als müsse er es neu kennenlernen. Jede Information nimmt er mit allen Sinnen auf, jeder Bewegung spürt er nach, jede Wandlung überprüft er und beäugt sie kritisch. Selbst die frisch gestrichene, fröhlich lachende Erdbeere, die seit gestern den Wegrand bevölkert und auf die bald nahende Erntezeit aufmerksam macht, wird nach beeindruckenden Drohgebärden beschnüffelt und schließlich beinahe verächtlich auf Hundeart als sein Eigentum gekennzeichnet. Er nimmt es sichtlich übel, wenn jemand sein Reich verändert.
Während unserer Wanderung durch offene Wiesenlandschaften und dichte Wälder wechselt er stets die Gangart zwischen kraftvoll-dynamischem, raumgreifendem Dahinfliegen und locker-elegantem, fast schwerelosem Trab und mit Freude betrachte ich das Spiel der Muskeln in der kräftigen Hinterhand. Immer wieder zwischendurch tanzt er ausgelassen um mich herum, fordert mich zum Spielen auf und dann wirbelt er begeistert mit glänzenden Augen und flatternden Ohren unermüdlich hinter seinem Spielzeug her über das frische Grün.
Von Zeit zu Zeit aber erstarrt King in Sekundenbruchteilen mit erhobener Pfote am Waldrand. Dann ist jede Faser seines Körpers gespannt und sein Blick konzentriert auf die Stelle, an der er etwas wahrgenommen hat, eine Bewegung vielleicht, einen Geruch oder ein Geräusch und ich weiß, dass jetzt der Jäger in ihm erwacht. Das ist der Moment, in dem ich mit einem scharfen »Hier« sein wölfisches Erbe stoppen muss und ich bin jedes Mal erleichtert, wenn er meinem Ruf Folge leistet. Die Jagdbeute aus meiner Jackentasche ist ihm dann sicher, das weiß er.
Haben wir den Höhenrücken erreicht, ist es nicht mehr weit bis zu unserer Bank, die einen traumhaften Blick über die Landschaft ermöglicht, und wir beide genießen die Sonne und die Stille abseits der Wanderwege. King sitzt vor mir am Wegrand, die Nase, im Wind, und lässt den Blick über sein Revier schweifen, wandelt sich vom spielbegeisterten Wirbelwind zu einem territorialen König, der sein Reich von diesem erhöhten Aussichtsplatz überwacht. Jederzeit ist er bereit, es mit Menschen, Hündinnen und ehrerbietigen Rüden zu teilen. »Alles meins!« gilt bei ihm ausschließlich bei unverschämt dominanten Lümmeln, die wohlmöglich auch noch größer sind als er! Die treffen wir in seinem Revier glücklicherweise nur selten, in sehr geringer Anzahl und sie spazieren immer gut leinengesichert! King allerdings dann auch!
Der große Zapfenstreich
»Im Gleichschritt, marsch! Links, zwo, drei, vier! Links, zwo, drei, vier! Links, …, links, …, links, zwo, drei, vier!« Ein Heer von Nilgänsen bevölkert unsere Wiese und macht aus ihr einen Exerzierplatz. Unfassbar, aus Kings Wiese, die bis zum Himmel geht und die jetzt statt der Sonnen-Sterne ein bescheiden grünes Gewand trägt. Wie gebannt stehen wir beide am Wegrand und beobachten den Drill einer Formalausbildung. Der Major wirft sich in die Brust und befiehlt militärisch korrekt: »Kompanie, halt! Rührt euch! In Linie antreten! Richt euch! Augen geradeaus! Schnabel ab! Fett anfuttern!«
Was muss jetzt in Kings Kopf vorgehen, der ja am liebsten unumschränkt in seinem Reich herrscht und jeden Eindringling zähnefletschend vertreibt? Daran hindert ihn im Moment wohl nur die Leine, die ich sicherheitshalber auf Spannung halte. King kennt durchaus etliche Gefiederte, hat auch Spaß daran, ihre Flugfähigkeiten zu schulen, aber solche Gänse in ihrer schmucken Paradeuniform hat er noch nie gesehen. Kein Wunder, ist doch das von unserem Zuhause entfernteste Gebiet, in dem er sich ab und zu aufhält, das nördliche Italien und von da bis nach Ägypten die Entfernung noch recht beträchtlich!
Plötzlich besinnt sich mein Terrier auf seine territorialen Ansprüche, springt auf, wirft sich ohne Rücksicht auf meine Standfestigkeit in die Leine, knurrt, bellt, geifert und fletscht das Heer der Gänse an, sodass es dem befehlenden Offizier zu ungemütlich wird. »Zum Abflug, marsch!« Hunderte von Flügeln schlagen hektisch, die Wiesenstartbahn wird zur Geschwindigkeitssteigerung genutzt