Mörderisches Taucha. Jürgen Ullrich
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und du sollst ihn nicht suchen trotzdem.
Und machst du nachts deine Stube licht
um Menschen zu schauen ins Angesicht,
so musst du bedenken: wem.
Damit hatte er auf jeden Fall ein Stimmungsbild erzeugt, denn die Menge rückte gleich etwas enger zusammen und dies hatte den Vorteil, dass Beide nicht mehr so laut reden mussten. Ja, Georg war ein Feingeist. Er las gern, besonders Gedichte von Rilke. Spät erst hatte er sich damit beschäftigen können, denn Rilke war in der DDR, in der er aufwuchs nicht so unbedingt gewollt. Ansonsten stand er zu seiner Vergangenheit, denn Kriminalist war er schon seit seiner Jugend. Politisch hatte er sich damals wie heute nicht betätigt, was ihn auch von Beförderungen verschonte. Mit seinen knapp sechzig Jahren war er deshalb auch nur beim Hauptkommissar angekommen. „Mehr geht nicht“, dachte er und war zufrieden mit sich und der Welt. Er träumte vor sich hin. Der Tross überquerte die Leipziger Straße in Richtung Park, als es plötzlich hupte. Georg Tandler erschrak, denn er hatte den Funkstreifenwagen gar nicht kommen hören. Hämisch rief ein junger Kollege aus den Wageninneren: „Na Georg, bist du wieder als Schülerlotse tätig?“ Georg winkte ab und lachte. Inzwischen war es in Taucha dunkel geworden und etwas gespenstisch lag der Park vor ihnen. Die Gruppe war auf der Parthenbrücke stehen geblieben und Georg schaute runter zum Fluss.
Die Parthe ist ein kleiner Fluss in Sachsen, der im Glastener Forst zwischen Colditz und Bad Lausick entspringt und nach 56,7 Kilometern Flusslauf in Leipzig in die Weiße Elster mündet.
Dieses Faktenwissen beherrschte er noch, denn er wurde in seiner beruflichen Laufbahn doch schon einige Male zu Tatorten an diesen Fluss gerufen. Er war froh, dass das Verbrechen, welches ihn im letzten Jahr im Atem hielt, nicht in der Parthe endete. Man hatte den kleinen geschundenen und missbrauchten Mädchenkörper in einem Seitenarm der Mulde gefunden. Der Fall wurde vor allem dank Georgs aufopferungsvoller Arbeit schnell gelöst. Derartige Täter hatten keine Chance, unerkannt zu bleiben. Heute und im Moment war er nur Zuhörer, und er lauschte den Worten seines Freundes Jürgen Schulze, alias Nachtwächter Johann Christoph Meißner.
Agatha war bisher zurückhaltend der Gruppe gefolgt. Sie hatte Wasser und Brot, neben einer Taschenlampe, in der mitgebrachten Umhängetasche verstaut. „Das war eben eine gute Idee, die mit Brot und Wasser“, dachte sie sich. „Man fühlt sich doch damit gleich in die Kriminalgeschichte rein versetzt.“ Sie machte sich also mit den anderen dreißig „Gefangenen“, auf den Weg und genoss die prickelnde Stimmung, welche schon seit Beginn die Tour beherrschte. Agatha hing Jürgen Schulze förmlich an den Lippen. Sie schob ihren schmalen Körper in die erste Reihe, denn der abendliche Autolärm verschlang unwiederbringliche Wortfetzen. Auch Agatha schaute, wie vorher schon Georg Tandler, von der Brücke hinab zur Parthe. In Richtung Schöppenteich bildeten sich schon einige kleine Nebelschwaden über dem ruhig dahin plätschernden Fluss. Agathas Blick schweifte zu dem Platz auf dem früher das Café Sitz stand. „Tolle Wortkombination“, dachte Agatha, „das Café Sitz stand … hihi.“
Jürgen Schulze nahm den lächelnden Blick von Agatha wahr und erklärte ihr mit wenigen Worten den historischen Zusammenhang.
„Im Jahre 1929 wurde mit dem Bau und der Gestaltung des Großen Schöppenteichs begonnen. In unmittelbarer Nähe wurde auch gleich eine schöne Gaststätte errichtet. Das Gelände gegenüber der Sparkasse wurde im gleichen Jahr an den Pächter Albert Sitz verpachtet. Danach gab es viele Wechsel in der Bewirtschaftung bis das im Volksmund genannte „Café Sitz“, in den neunziger Jahren abgerissen wurde.“
Hier gleich rechts neben der Parthe war sie als junges Mädchen des Öfteren in eben diesem Café Sitz zum wochenendlichen Tanz aus Leipzig mit der Straßenbahn angereist und wurde dann weit nach Mitternacht per Fuß nach Hause gebracht. Das Städtchen hatte sie schon damals gemocht, nicht ahnend, dass sie hier einmal zu Hause sein würde.
Im Moment hielt sie aber die Parthenbrücke in ihrem Bann. Der Gedanke, dass hier auf der Brücke vor vielen Jahren ein Verbrechen sein Ende fand, ließ Agatha leicht frösteln.
IV. Johann Christoph Meißner – Nachtwächter der Stadt Taucha
„Natürlich muss ich mich ihnen erst einmal vorstellen. Mein Name ist Johann Christoph Meißner“, begann Jürgen Schulze seine Erzählung.
„Uff“, stöhnte er, schnaufte ein wenig. „Man ist nicht mehr der Jüngste. Und als Nachtwächter ist man auch ganz ordentlich gefordert.“ Er schaute sich um, sein Blick ging hinüber zur Sparkasse. „Was ist das für ein Haus? Das kenne ich doch noch gar nicht. Also früher, zu meiner Zeit. da stand hier nichts. Gar nichts. Wir wären bereits im Niemandsland außerhalb der schützenden Stadtmauern gewesen. Nur die Parthe, dieses ruhig dahinplätschernde Flüsslein, ja die waren schon immer hier. Obwohl, zu meiner Zeit waren da mehrere Flussarme und so ruhig wie heute floss der Fluss gar nicht. Ja früher …“ Er schaute sich noch mal um.
„1722. Das waren noch Zeiten. Ich, Johann Christoph Meißner, trat meinen Dienst als städtischer Nachtwächter an. Ich erinnere mich noch genau meines ersten Arbeitstages, als ich vom Hohen Rat der Stadt vereidigt wurde. Was war ich aufgeregt, als ich den Amtseid sprach:
Ich gelobe und schwere.
Das ich mich auf die wacht Zue rechter Zeit einstelle,
und bis 0 lassen:
Die Stunden jedmahls fleissig
und deudtlich ausrueffen.
Auch uff feuer, und Andern und dieberei
Gemeiner burgerschaft schaden, gute achtung geben.
Und mich eines Ehrn Vesten Raths gebott,
und anordnung Allenthalben gemeß,
und ehorsam lichen Verhalten will:
Auch melden, was ich melden solle: und schweigen,
was ich schweigen soll:
So wahr mir Gott helffe. Und sein heilig worth.
1764 kaufte ich ein kleines Häuschen in der Neustadt von Marie Biermann, geborene Zimmermann und verwitwete Schultzin und zahlte dafür 12 Schock. Das Schock war eine Rechnungsmünze und entsprach 60 alten silbernen Groschen, sogenannten Wilhelminern. Also bezahlte ich 7.200 Silbergroschen, für meine Zeit und für meine Verhältnisse eine recht ordentliche Summe, die ich gerade aufbringen konnte. Haus und Hof waren klein, aber für mich ausreichend. Zusammen bemaßen sie rund 3 Ruthen, das anliegende Gärtlein noch mal 5 Ruthen. Eine Ruthe sind nach heutiger Rechnungsweise etwa 4,3 qm. Haus und Hof maßen folglich etwa 13 qm, mein Gärtlein 22 qm.“ Der Nachtwächter schaute sich abermals um, fingerte lange in seinem Leinenbeutel herum, den er stets schräg über die Brust gehängt bei sich trug, und zog schließlich eine blecherne Flasche hervor. Umständlich und sehr vorsichtig entfernte er den Korken von der Flasche und trank dann ein paar Schlucke. Nachdem er sich mit einem Ende seines Umhanges die Lippen abgewischt hatte, verschloss er die Flasche sorgfältig und verstaute sie in dem unendlich großen Beutel.
„Trinken muss der Mensch schließlich. Bier?