Der Tanz der Koperwasy. Bernd Nowak

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Der Tanz der Koperwasy - Bernd Nowak

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vom Stamm der Koperwasy – zu einem Seitenzweig der Dynastie. Ich erinnere mich wie durch einen Nebel an diese Menschen; sie waren klein, dunkel, mit ein wenig semitischem, rötlichem Einschlag und trugen Vornamen, die mir heute nicht mehr geläufig sind. Der Stammbaum des Geschlechts war recht verworren, sodass mir manchmal schien, dass jeder mit jedem verwandt war, was wohl in gewisser Weise auch stimmte. Niemand außer Großmutter Weber war in der Lage, diese Verwandtschaftsverhältnisse zu entwirren.

      Nach Kółeczko ging man, um mit anderen Jungen zu spielen. Dort war es leichter, einem der Altersgenossen zu begegnen, während andere in den auf den Feldern verstreuten oder sich an der asphaltierten Chaussee hinziehenden Gehöften unauffindbar blieben.

      Die Gehöfte hießen nicht wirklich Kółeczko. Vielmehr bildeten sie das eigenständige Dorf Ołędry Sztumskie. Allerdings benutzten alle den verkürzten Ersatznamen, indem sie etwas hervorhoben, was sowieso klar war: Das Dorf war in Kreisform aufgebaut worden. Dort, mitten auf dem Platz, stand eine der wichtigsten Requisiten meiner Kindheit: eine große gusseiserne Pumpe mit einem abgewetzten glänzenden Griff. Dieses Meisterstück deutscher Gusskunst, das unter unseren Füßen unsichtbar blieb, hatte eine Eigenart, die mich immer wieder neugierig machte. In gewisser Weise identifizierte ich mich sogar mit ihr; ich kann sogar behaupten, dass sie genauso stotterte wie ich. Wenn man den Hebel bewegte und nicht das Wasser, sondern die neben dem Kolben entweichende Luft angesaugt wurde, gab die Pumpe Geräusche von sich, die aus dem Erdinneren zu kommen schienen, indem sie lange, metallische Selbstlaute ausstieß. »Aa… Aahh… Iiii… Aaa… Aah«, stöhnte sie arm und einsilbig vor sich hin, als könne sie trotz der Anstrengung nichts anderes hervorbringen.

      Aber diese Spiele dauerten sogar im Sommer nicht lange. In der Abenddämmerung wurde Kreislein mit einem breiten, unüberwindlichen Zaun abgesperrt. Wir spürten, dass die von dort doch etwas anderes waren als die Kinder an der Chaussee oder die aus den im Tal verstreuten Gehöften. Die Dorfbewohner bildeten eine Gruppe für sich mit einem durch Sitte festgelegten Rhythmus des Verschließens, während alle anderen ein weitaus weniger geregeltes Leben führten. Für uns war das beschwerlich, denn manchmal wären wir gern bis abends geblieben, aber da wurde schon der Palisadenzaun aufgestellt und wir mussten weichen. Die aus Kółeczko blieben zurück, auf der Wiese und mit der geheimnisvollen Pumpe, wir aber gingen zögerlich in alle Richtungen auseinander. So richtig habe ich diese Unbequemlichkeit aber erst viel später verspürt. Und zwar dann, als mich die dort – wie hinter der Palisade einer von Schwarzerde umgebenen Burg – eingesperrte Kasia Kurcjanow zu interessieren begann.

      Kasia war die Erste von den Altersgenossinnen aus der Familie, bei der ich schon lange die immer größer werdenden Wölbungen ihrer Brüste wahrgenommen hatte. Sie nahm meinen ebenso verschämten wie kühnen Blick genau wahr und erwiderte ihn mit der ganzen Direktheit einer zum Leben erwachenden jungen Frau. Sie sah mir gleichermaßen mutig wie schamlos in die Augen. Sie war älter und brauchte mich nicht ernst zu nehmen, weshalb sie bei mir weitergehen konnte als bei anderen. Mit den anderen hatte sie sicher schon das eine oder andere ausprobiert, sie musste sich also vor ihnen in Acht nehmen, aber mit mir konnte sie sich alles erlauben. Ich glaube, dass ich für sie so etwas wie ein bequemes Versuchskaninchen war, von dem man sich, wenn es denn so weit ist, ein für alle mal trennt. Das habe ich erst viel später verstanden und bevor dieser Moment kam, war ich überzeugt, dass sie für mich die gleichen Gefühle hegte wie ich für sie. Dabei handelte es sich – denn ich muss den Mut haben, die Dinge beim Namen zu nennen – um mit Provokation vermischtes Mitleid und Erbarmen.

      Wir bogen nach links ab und gelangten vorsichtig durch das verwässerte Ultramarin des Morgens zu den an dem doppelten Bogen – aus Weg und Bachlauf – gelegenen Gebäuden. Das große Haus, mit dem unter einem Dach untergebrachten Wirtschaftsteil, war im Schlaf versunken. Manchmal klirrte ganz kurz eine von einem Kuhschädel bewegte Kette. Ihr antwortete von der gegenüberliegenden Seite des Hofes die andere, durch die Schwelle der Bude hindurchgezogene und auf dem Holz schnarrende Kette des Hundes. Der alte Schäferhund, der von Aloch als »einstdeutsch« bezeichnet wurde, begrüßte uns als Erster. Wir waren immer ein wenig verwundert, dass in dem Trauerhaus kein Licht zu erblicken war, dass alle schliefen, so als ob nichts passiere. Und dass es nicht gelingen würde, dem für niemanden angenehmen Wecken, den verschlafenen Gesichtern und den nächtlichen, uns küssenden Mündern zu entgehen.

      Zunächst ein schüchternes, dann ein zweites Anklopfen und danach die blässliche Cousine Sabina in der Tür, der die Mutter einst, als es ihr schlecht ging, die Schlüssel übergeben hatte. Danach das Eintreten, das Hinstellen der Koffer und der Blick in die nach Knoblauch duftende Küche, während Sabina, noch immer in dem mit braunen Punkten bekleckerten Nachthemd, die Herdringe abnahm und Feuer machte. »Wie geht es der Tante?«, fragten wir, nachdem wir einen Moment gewartet hatten, um im Gegenzug das zwischen dem Kratzen der Schaufel erwiderte »Krank … Gestern war der Arzt da« zu hören.

      Nach dem Frühstück, bei dem kaum gesprochen wurde, legten wir uns für zwei, drei Stunden hin; wir in unser kühles Bett, die blasse Sabine in ihr warmes, zu dem im ganzen Haus vernehmbar schnarchenden Aloch. Es schickte sich zu so früher Tageszeit nicht, in das von Krankheit erfüllte Zimmer der Tante hineinzuschauen. Sie schlief.

      Während unserer Besuche erhielten wir immer dasselbe Zimmer. Auf der einen Seite des Korridors befand sich der Kuhstall, auf der anderen der Wohnbereich, von dem aber nur die Küche und die drei größten Stuben hergerichtet worden waren. Unsere Tür war die zweite in der Zimmerflucht, die dritte führte zu einer Stube, die nie genutzt wurde. Dahinter befand sich noch eine Stube mit Blick auf die Darre, das sogenannte Gästezimmer, das den Trauernden zur Verfügung gestellt wurde. Gerade hier sollte später, für ein paar Wochen, Marta wohnen.

      Auch unsere Stube war, außer den zwei Betten und einigen Stühlen, von denen jeder einzelne einer anderen Garnitur entstammte, nicht eingerichtet. Als Tante Gienia einmal gefragt wurde, warum dort niemand wohne, erwähnte sie die Feuchtigkeit, die man zwar noch nicht spüre, aber die noch kommen werde, die unter dem Fußboden scharrenden Mäuse und noch etwas anderes … Sie gab mir aber niemals eine eindeutige Antwort.

      Das Haus der Tante war mit allerlei Absonderlichkeiten vollgestopft, die für ein Kind unverständlich blieben. Oben der verwahrloste Dachboden voller Gerümpel, hinter dem Kuhstall der verfallende Keller, schließlich die in der Scheune stehenden, niemals in Gang gesetzten Maschinen. Dies alles formte sich zu einer unverständlichen und dadurch noch attraktiver werdenden Chiffre. Es wurden keine neuen Gebäude errichtet und nur selten nahm man Reparaturen am Gehöft vor. Sicherlich, keiner konnte in jenen Jahren wissen, wie lange er dort bleiben würde, aber man hätte doch die einstdeutschen Werkzeuge oder das niemals in Bewegung gesetzte und mit Grünzeug überwucherte Göpelwerk benutzen können. Zur Rechtfertigung von Frau Koperwas muss allerdings ergänzt werden, dass die Gerätschaften der Tante nicht die einzigen waren, die ungenutzt herumlagen. Jeder, der sich in jenen Jahren nach Pommern verirrte, konnte mit eigenen Augen wesentlich schlimmere Dinge erblicken.

      Wir erhoben uns von unseren Schlafstätten, wenn das Haus schon lange auf den Füßen war. »Die Kinder sollen sich richtig ausschlafen, sie waren die ganze Nacht unterwegs, Gott verhüte, dass sie krank werden …«, rechtfertigte uns die von einem aufs andere Jahr schmaler werdende Sabine. Man weckte uns also erst, wenn das Mittagessen schon fertig war, sodass wir uns wieder schläfrig abermals an den Tisch setzten. Man erzählte, unterhielt sich und erkundigte sich nach unseren Angelegenheiten, also nach der Oma und der Schule; wir fragten umgekehrt nach der Tante, nach ihrem Befinden und der neuesten Entwicklung ihrer Erkrankung. Ich wusste, dass ich sie auch diesmal im gleichen Zustand erblicken würde. Dass wir wiederum ein ums andere Mal bei ihr hineinschauen würden, immerzu verlegen und desorientiert und selbst nach einigen Tagen nicht wissend, ob wir uns auf die Rückreise vorbereiten oder auf ihren Tod warten sollten.

      Im Trauerhaus wurde natürlich nur halblaut gesprochen. Man fragte uns nach Marta, nach den Chancen für ihr Kommen und nach anderen Neuigkeiten, worauf wir aber nur wenig zu antworten wussten. Im Laufe der Jahre schrieb Marta immer seltener und beschränkte sich auf Postkarten,

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