Wir leben weiter ins Ungewisse. Группа авторов
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Eine möglichst offene Haltung erfordert möglichst wenige Vorgaben für den Prozess des Sammelns. Ich suchte nach privaten Texten, nach Tagebüchern, Briefen, Berichten aus dem Jahr 1945, im Unterschied zu Erinnerungen an diese Zeit oder Interviews mit Zeitzeugen, zwei in der Herangehensweise und den Ergebnissen gänzlich andere Textsorten. Sonst machte ich keine Einschränkungen, suchte auch nicht gezielt nach bestimmten Themen. Ich nutzte mein privates und berufliches Netzwerk, erzählte von meinem Vorhaben, schickte als Beispiel den Text meiner Mutter herum und bat darum, in Kellern und Dachböden nach entsprechenden Dokumenten zu suchen und mein Anliegen auch im Bekanntenkreis zu verbreiten. Zu den Texten, die mir dann zur Verfügung gestellt wurden, hatten die BesitzerInnen allesamt eine persönliche Beziehung; meist stammten die Texte, wie meiner auch, von den Eltern. Manche hatten die gefundenen Tagebücher oder Briefe noch nie gelesen, und zwar nicht nur deshalb, weil die Schrift ihnen Schwierigkeiten machte oder weil sie bisher nicht dazu gekommen waren. Die Scheu davor, vielleicht etwas zu erfahren, das man gar nicht wissen will, spielte sicher mit. Einige der Angeschriebenen fanden wohl passende Dokumente, mochten sie aber aus unterschiedlichen Gründen nicht veröffentlicht sehen.
Zu Beginn des Sammelns hatte ich noch kaum eine konkrete Vorstellung, was da auf mich zukommen würde und ob die Texte qualitativ und quantitativ für eine Veröffentlichung geeignet wären. Als die Dokumente dann nach und nach eintrafen, überraschte und beeindruckte mich ihre Vielfalt und ihre Intensität. Ich hatte Glück, dass ich Texte von Frauen und Männern, aus verschiedenen Gebieten Deutschlands, von Personen mit unterschiedlicher Bildung und unterschiedlichen Berufen erhielt. Und Glück auch insofern, als keine Texte von Prominenten oder von nationalsozialistischen Politikern dabei waren. Sie hätten der Sammlung und ihrer Rezeption falsche Akzente gegeben. Auch erhielt ich keine Dokumente von Gefangenen in Konzentrationslagern; solche Texte hätten vermutlich die gesamte Sammlung aus den Angeln gehoben. Was ich also »Glück« genannt habe, sind genau genommen Auswahlkriterien, die ich aber nicht anwenden musste.
Ansonsten orientierte ich mich in der Auswahl der Dokumente an meinem »Geschmack«. Gut lesbare, spannende, anrührende Texte sollten es sein, Texte, die eine Geschichte erzählen. Solche Qualitäten hatten überraschend viele. Einige wenige Kürzungen schienen mir sinnvoll, da die Tagebücher stellenweise viel Privates enthalten, das für Außenstehende nicht verständlich ist und zu viele Erläuterungen notwendig gemacht hätte. Rechtschreibung, Zeichensetzung und Grammatik habe ich der Lesbarkeit wegen nach den heutigen Regeln korrigiert, dabei aber hier und da sprachliche Eigenheiten belassen, die zur Zeit und zur Persönlichkeit der Schreibenden gehören. Die Anordnung der Texte folgt keinem zeitlichen, regionalem oder thematischen Ordnungsprinzip; eine Dramaturgie der Abwechslung von kurzen und langen, leichtgewichtigen und schweren Texten erschien mir lesefreundlicher und reizvoller.
Für das Verständnis der Texte ist eine gewisse Kenntnis der Zeitgeschichte um das Jahr 1945 notwendig. Da ich selbst keine Historikerin bin, war mir klar, dass ich mich hier auf ein für mich unsicheres Terrain begeben würde. Aber selbst Fachleute hätten wohl Schwierigkeiten, das richtige Maß an notwendigen Informationen für diese Sammlung zu liefern. Die Texte sollten ja nicht von Informationen überwuchert werden, sie sollten das bleiben, was sie sind, und nicht relativiert werden durch »objektiv richtiges« Wissen über diese Zeit. Es galt also, Informationen zu finden, die so etwas wie ein Allgemeinwissen repräsentieren, ein Allgemeinwissen, das gleichzeitig auf dem heutigen wissenschaftlichen Stand ist.
Diese Anforderung schien mir am besten eine Veröffentlichung des Deutschen Historischen Museums in Berlin zu erfüllen. Ein relativ kurzer Text, online zugänglich und mit vielen Links versehen, beschreibt den Verlauf des Zweiten Weltkriegs. Als Hintergrundfolie für die Dokumente ist er hier vollständig wiedergegeben.
Darüber hinaus habe ich in kurzen biografischen Skizzen sowie in Anmerkungen versucht, notwendige Verständnishilfen zu geben. Dabei konnten die heutigen BesitzerInnen der Dokumente mir häufig Fragen beantworten; ein großer Vorzug meiner Methode des Sammelns, die den Kontakt zu den Kindern oder Enkeln der Schreibenden beinhaltet. So geht mein Dank an Martina Bress-Thiem und Herbert Gleich, Michael Brömse, Bruno und Kadja Grönke, Hildegard Harms, Ruth Kilp, Erardo C. und Erika Rautenberg, Georg und Peter Schleuning, Hanna Schütt-Dunker, Wolfgang Stroh, Ursula Syring-Dargies für die Überlassung der Briefe und Tagebücher und die Beantwortung von Fragen. Bei Hildegard Harms bedanke ich mich für das Entziffern von Handschriften und bei Almuth Tibbe für die Mitarbeit an der Konzeption des Buches.
Auszug aus dem Tagebuch von Trudi Tibbe (1917–1971) für ihre Tochter Monika, im Mai 1945 etwas über ein Jahr alt. Trudi Tibbe arbeitete damals als Diakonin in Lingen, Niedersachsen; die Familie Staedtke, von der im Text die Rede ist, war die Pfarrersfamilie. Auf dem Bauernhof in Quendorf, von Lingen etwa zwanzig Kilometer entfernt, lebte die Herkunftsfamilie ihres Mannes, Johann Tibbe (1914–1976).
Trudi Tibbe ist 1945 achtundzwanzig Jahre alt.
6. Mai 1945
Nun haben wir beide ein ganzes Stück Weltgeschichte erlebt seit meinem letzten Erzählen. Die Alarme wurden im März immer häufiger, so dass Du kaum draußen sein konntest und fast dauernd im Keller sein musstest. Ich legte Dich abends auch immer gleich im Keller schlafen. Am 24. März gab der Drahtfunk durch, es bestehe Gefahr für Lingen, man solle möglichst Stadt und Bahngelände verlassen. Da packten wir Dich zum ersten Mal ins Fahrradkörbchen und verbrachten einen sonnigen Ferien-Samstag-Nachmittag auf einer Waldwiese bei Wachendorf. Du spieltest mit Blättern und Gras und warst mit solch abwechslungsreichem Alarm sehr einverstanden. Von dem Tag ab saß ich etwas unruhig hier. Aber Ostern sollte die Konfirmation sein, und vorher konnte ich Lingen nicht verlassen.
Die Tage vor Ostern waren voller Aufregungen: Einberufung und Abtransport der Vierzehn- und Fünfzehnjährigen,1 die aber bis auf wenige alle wieder ausrissen, so dass am Konfirmationstag nur ein Junge fehlte. Und dann kamen die Nachrichten vom schnellen Vorstoß der Engländer. Montag Morgen hieß es: »Panzerschützen vor Gildehaus.« Da wurde es allerhöchste Zeit für uns, wenn wir noch nach Quendorf wollten. Alles ging im Hui: ich packte, Frau Staedtke backte uns etwas, Du schliefst. Dann standen wir im Vorkeller startbereit, und draußen goss es in Strömen, und der Sturm fegte einem den Regen nur so ins Gesicht. Es schien Wahnsinn, jetzt loszufahren, aber wir wussten: jetzt oder gar nicht und wagten es. Eva Staedtke fuhr bis zur Haneken-Brücke mit, um Papa schreiben zu können, dass wir gut am anderen Ems-Ufer gelandet seien. Zum Glück waren die Brücken noch heil, vierzehn Stunden später wurden sie gesprengt. Das Bild der Straße werde ich nie vergessen: etwa alle zwanzig Meter ein deutscher Infanterist, müde, mit letzter Kraft sich vorwärtsschleppend, dann wieder ein Trüppchen, das sich vorwärts sang und ganz, ganz selten ein Auto, dann aber auch bis an Kühler und Trittbrett voll von solchen, die nicht mehr konnten. Wiederholt wurde ich nach dem Weg gefragt. Kaum einer wusste, wohin er sollte. Es war ein ungeordnetes, zurückflutendes, schon geschlagenes Heer. Und mitten in all dem traurigen Geschehen jauchztest und trötetest Du in Deinem Fahrradkörbchen vor Lebenslust. So machtest Du mir Mut, und hie und da freute sich auch ein müder Soldat an Deinem Anblick. Hinter Emsbüren wurdest Du knötterig. Wahrscheinlich hattest Du Durst und konntest auch nicht mehr sitzen. So gingen wir in ein Haus, um Dir Dein Fläschchen zu wärmen. Diese Rast habe ich noch oft bereut und verwünscht. Als wir herauskamen, war alles verändert: Die Regenwolken hatten blauem Himmel Platz gemacht, und die Sonne schien sogar warm. Aber statt Wolken waren Tiefflieger am Himmel! Die Straße war plötzlich bevölkert, dicht bevölkert: Geordnete Gruppen zogen dem Feind entgegen: zu Fuß mit Panzerfäusten, beritten, dazwischen ein Trosswagen am anderen, Sanitätswagen usw. Ich musste fast dauernd schieben, und wir beide waren die einzigen Zivilisten weit und breit. Immer wieder hieß es: »Wo wollen Sie denn noch hin? Sie fahren ja in falscher Richtung mitten in die Engländer hinein.« Oder: »Dort drüben schießen sie ja schon hinein, bleiben Sie bloß hier!« Aber alle waren freundlich zu uns, machten, wenn’s ging, Platz und halfen uns vorwärts. Plötzlich war die Straße vollkommen leer: Alle Soldaten lagen an der Böschung oder im Graben, und die Flieger kamen herunter und schossen. Ich lag