Silbergrau mit Wellengang. Andrea Reichart
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Neben ihr saß Sonja, die mollige, gutgelaunte Krankenschwester. Sie holte immer dann, wenn jemand zu würgen begann, ihr Banjo raus, um die Stimmung aufzulockern.
Der letzte im Bund war Schorschi, ein in Ehren ergrauter Handwerker mit gichtgeplagten großen Händen. Er versuchte schon seit Paris, mit einem überdimensionierten Schraubendreher sein mikroskopisch kleines Radio auseinanderzuschrauben, das trotz frischer Batterien keinen der lokalen französischen Sender empfangen wollte. Immer wieder rief er: „Fahr nicht so ruckelig!“
Er trieb mich in den Wahnsinn.
Sie alle trieben mich in den Wahnsinn.
* * *
Es musste inzwischen weit nach Mitternacht sein. Hätte ich einen Bus voller Kinder durch die Nacht gefahren, wäre inzwischen Ruhe und sie würden schlafen. Aber da meine Reisebegleiter, die ausnahmslos die Siebzig hinter sich hatten, ihrer ungewissen, wenngleich überschaubaren Zukunft entgegenfieberten, floss in ihren Adern zu viel Adrenalin, als dass sie hätten eindösen können. Vielleicht hatten sie auch einfach keine Lust, ihre knapp bemessene Restlebenszeit mit Schlafen zu verschwenden.
Meine Hände taten inzwischen entsetzlich weh, so sehr krallten sich meine Finger schon seit ungezählten Kilometern ums Lenkrad. Meine Füße brannten wie die Hölle. Der Rücken schmerzte, mein Magen krampfte, meine Augen brannten vor Tränen der Wut, denen ich unter keinen Umständen vor diesen Leuten freien Lauf lassen wollte.
So ging das nicht weiter. Ich brauchte eine Pause.
Kommentarlos setzte ich den Blinker und steuerte von der Autobahn hinunter auf einen Rastplatz. Etliche Reisende hatten bereits dieselbe Idee gehabt, erst ganz am Ende des Parkstreifens fand ich eine Lücke, die groß genug war, den Busveteran samt Anhänger hineinzumanövrieren.
Als ich den dicken Schalthebel ein letztes Mal in den knarzenden ersten Gang wuchtete und den Schlüssel drehte, erstarb der Motor mit einem Zittern, als wäre er erleichtert, es endlich hinter sich zu haben.
„Ich weiß genau, was dir nun guttun würde“, sagte Lisbeth mit einem entschlossenen Blick auf mich. Sie hatte ihre Tür bereits aufgestemmt und stieg aus.
Hinter uns raschelte es, als die Rentnergang ihre Knochen sortierte.
„Los, hilf mir mal“, kommandierte Lisbeth und machte sich an der klemmenden Seitentür zu schaffen, um die anderen herauszulassen.
Vergeblich.
So ruhig wie möglich ging ich um den Bus, dann atmete ich tief durch und sagte: „Geht zur Seite!“
Inzwischen hatte ich den Dreh raus. Ich übte den nötigen Druck aus und das Türschloss gab nach.
Während die anderen aus dem Wageninneren an die frische Luft drängelten, half Lisbeth Rolf ins Freie.
„Alles gut?“, fragte sie fürsorglich.
Er nickte und stützte sich auf sie. „Alles bestens, Lisbeth! Danke, dass ihr mich nicht zurückgelassen habt!“
Während er sprach, griff ich nach seinem Handgelenk und kontrollierte unauffällig seinen Puls. Alles im grünen Bereich.
Ich ging um den Bus herum, öffnete die Heckklappe, nahm eine Sprudelflasche aus der Wasserkiste und reichte sie ihm.
Neben mir kramte Lisbeth in einer Tüte. „Ah, da ist sie!“, sagte sie zufrieden und hielt triumphierend eine Sprühdose in die Höhe.
„Was ist das?“, fragte ich eher aus Höflichkeit als aus echtem Interesse.
„Rasierschaum für Frauen. Setz dich hin und zieh die Schuhe aus.“
„Was?“
„Nun komm schon, du bist total angespannt, ich massiere dir die Füße!“
„Das wirst du ganz sicher nicht.“ Ich wandte mich ab, aber sie hielt mich zurück. Ich wusste, dass ich sie nicht abschütteln konnte, ohne ihr wehzutun. Sie ging mir ja gerade mal bis zum Kinn und war ziemlich klapprig. Niemand würde Verständnis dafür haben, wenn ich ihr den Arm brach, nur um sie loszuwerden.
Unsere Gruppe hatte sich bereits in der Dunkelheit der Nacht verteilt und stille Örtchen hinter dürrem Buschwerk gefunden.
In den Fahrzeugen, die am Straßenrand parkten, erkannte ich schlafende Fahrer. Ein verdunkeltes Wohnmobil, das etwas weiter hinten stand, wippte verdächtig.
Lisbeth zog mich zu einer Bank. Ich ließ mich darauf sinken und war erleichtert, als sie freiwillig ihren Klammergriff lockerte.
Ehe ich mich versah, hockte sie sich vor mich und begann, meine Schuhe aufzuschnüren.
„Ich weiß, dass du mich für eine durchgeknallte Spinnerin hältst, mein lieber Alexander“, sagte sie ruhig, „aber glaube mir, ich weiß, was ich tue.“
Sich gegen Lisbeth zu wehren, wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, funktionierte nicht. Es war besser, sie und ihren messianischen Eifer einfach über sich ergehen zu lassen, als stundenlange Diskussionen zu riskieren, das hatte ich bereits gelernt.
Ich lehnte mich also zurück.
Ihr grauer Scheitel glänzte ein wenig im Mondlicht, die spindeligen Pipi Langstrumpf-Zöpfe, die sie trug, wippten neben ihrem Kopf auf und ab, als sie versuchte, es sich etwas bequemer zu machen.
Als sie mir die Socken von den Füßen streifte, stellte ich überrascht fest, wie warm ihre Hände waren. Sie griff nach der Dose, schüttelte sie kurz und energisch, dann sprühte sie sich etwas Schaum in die Handfläche.
Ich wollte sie fragen, warum sie sich solche Mühe mit mir gab. Unsere Wege würden sich trennen, sobald wir Faro erreichten – falls wir Faro erreichten. Der Ort lag in Portugal und das bedeutete, dass wir noch einen sehr langen Weg vor uns hatten. Der musste nach Adam Riese irgendwie auch über die Pyrenäen führen oder zumindest haarscharf an diesen vorbei, aber immer, wenn ich Lisbeth nach der geplanten Route fragte, lächelte sie nur und sagte: „Vertrau mir. Die Pyrenäen sind atemberaubend. Du wirst sehen.“
Natürlich würden sie atemberaubend sein, vor allem, wenn an diesem Klapperbus bergab die Bremsen versagten und wir mit Vollgas über eine Klippe schossen. Dem Sonnenaufgang entgegen.
Ich zuckte zusammen. Mein rechter Fuß versank mit der Ferse zuerst in einer Handvoll weißem Schaum.
Mein Reflex, ihn sofort wegzuziehen, wurde beinahe im selben Augenblick von dem Wunsch ausgehebelt, ihn in die ungewohnt wohltuende Empfindung hineinzupressen.
Überrascht starrte ich Lisbeths Scheitel an. Wie alt war sie eigentlich genau? Sie war ausgesprochen hager, fast dürr, als hätte sie erst vor kurzem eine schwere Krankheit überwunden. Ich würde sie fragen müssen. Nur nicht jetzt, denn jetzt kniete sie vor mir und umsorgte mich.
Ich wollte aber nicht, dass Lisbeth mich umsorgte. Ich wollte wütend auf sie sein dürfen.