Das schöne Fräulein Li. Peter Brock

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Das schöne Fräulein Li - Peter Brock

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      Das Gericht hat, was Kappe kaum glauben kann, die Klage abgewiesen und die 225 Prozent Zinsen nicht als strafbaren Wucher angesehen. Schließlich sei das Opfer nicht in einer Notlage gewesen.

      «Nassforsch», sagte sein Vater immer, wenn einer, von sich selbst überzeugt, ohne dass viel dahintersteckt, einem anderen großkotzig kommen will.

      Nassforsch, das ist auch dieser Brückmann, denkt Kappe. Darum hat er ihn auch absichtlich warten lassen und als Letzten zu sich ins Bureau gerufen.

      Die anderen drei haben nicht viel gesagt. Nicht einmal die schwarzen Wollhosen und das cremefarbene Oberhemd unterm abgewetzten braunen Sakko haben sie beschreiben können. Und wenn sie schon nicht wissen, wie der Tote aussah, der doch immerhin stundenlang zu ihren Füßen lag, wie sollen sie dann erst den Täter beschreiben können?

      «Groß, kräftig, kantig», behauptet Brückmann. «Ein Deutscher, ganz klar!»

      Die drei anderen waren sich da nicht so sicher.

      Ansonsten nutzt Brückmann die Gelegenheit, um in der Amtsstube seiner Meinung über die schmarotzenden Ausländer, die Kriegsgefangenen aus dem Osten, die in der Stadt geblieben sind, und die marokkanischen Soldaten der französischen Armee freien Lauf zu lassen. «Die besetzen unsa Saarland und besudeln unsere Frauen.» Brückmann holt behäbig ein Stofftaschentuch aus der Hosentasche, spuckt abfällig hinein, steckt es wieder ein und fährt fort: «Schweine sind det – und det Versailles! Eene Schande!»

      Kappe schaut ihn nicht einmal an, er ordnet seine Unterlagen. Er ist gern Deutscher – aber dieser Ausländerhass, dieser billige! Kappe findet das widerwärtig. «Würden Sie ihn wiedererkennen?», fragt Kappe.

      «Sicha! Aber ick würd ihn nich verraten, nicht ausliefern an diesen Memmenstaat. Er hatte sicha seine Jründe, so wat zu tun, auf dies Jesocks einzuprügeln, meine ich.»

      «Es wäre aber strafbar, den Täter nicht zu nennen», entgegnet Kappe angewidert. «Und außerdem, das Opfer war kein Gesocks, es war ein Chinese. Ein Mensch wie Sie und ich.»

      «So? Meinen Sie? Die kommen hierher, verdienen sich mit gefälschtem Nippes dumm und dämlich und machen die Mietpreise kaputt, weil se zu viel zahlen für die letzten Absteigen, so dass unsere Leute keene Unterkunft mehr finden. Und wenn se jut aussehn, poussieren se auch noch mit unsere Mädels. Nee, da hab ick keen Mitleid nich!»

      «Das alles wissen Sie so genau?», fragt Kappe.

      «Jawoll ja! Einem Kollegen isses so jegangen. Der hat seine Kammer verloren inner Krautstraße, weil die Wirtin von’ nem Chinesen mehr bekommen hat. Und als ihm dann die Hand ausjerutscht is und er dem Schlitzauge mal Bescheid jestoßen hat, issa auch noch vorm Kadi jelandet.»

      «Und Sie rechtfertigen diese Körperverletzung auch noch?», fragt Kappe.

      «Körperverletzung? Das war Notwehr! Nationale Notwehr sozusagen. Wir sind doch hier in Deutschland!»

      Kappe merkt, dass das Gespräch mit Brückmann nur als Belastungsprobe für die Nerven taugt, und beschließt, dass dafür in seinem Leben Klara eine ausreichende Trainingspartnerin ist. Wer aus Brückmanns Umfeld wann in eine Chinesen-Schlägerei verwickelt war, das wird er mal gesondert prüfen, oder er wird es gar nicht prüfen. Denn dass Brückmann nicht der Täter sein kann, ist klar. So, wie das Opfer durch die Tritte zugerichtet wurde, hätte der Täter Blut an Schuhen und Hose haben müssen. Brückmann darf also gehen.

      Und auch Kappe geht. Dorthin, wo das Opfer lebte. In Berlin gibt es 38 Kabaretts und jeden Tag schönere, jüngere Nackttänzerinnen, die die neue Freiheit der Sitten nutzen. Näheres weiß Kappe freilich nur von seinem Freund Gottlieb Lubosch, auch Liepe genannt, dem Adlon-Kellner, der sich im Nachtleben auskennt.

      Es gibt Menschen in der Stadt, die ordern in Revuetheatern den Champagner nur flaschenweise, die schicken ihren Chauffeur zum Kokainkauf in die Friedrichstraße, und manchmal bringt der dann auch gleich noch ein, zwei leichte Mädchen in Pelz und Hut auf dem Rücksitz der Duxschen Pullmann-Limousine mit. Wer kann und will, der lässt es sich gutgehen. Besser als je zuvor. Manche aber werden durch die viele Reklame, die nun auch an Laternenpfählen hängen darf, unzufrieden. Sie glauben, zu kurz gekommen zu sein, und wollen ein größeres Stück vom Kuchen abhaben. Natürlich ohne es sich leisten zu können.

      Diese Diskrepanz kann, kriminalistisch gesehen, zum verbotenen Eigentumserwerb unter Zuhilfenahme von unrechtmäßigen Handlungen führen, erinnert sich Kappe an das einst auf der Polizeischule Gelernte, an das er gerade denken muss, als er am Schlesischen Bahnhof aussteigt. Kurz gesagt, mancher mordet, um an Geld zu kommen, andere, wie Klara, wollen einfach nur ein neues Kleid mit Fledermausärmeln. Auch das ist teuer. Man denke nur an die Stoffverschwendung dieser modischen Schnitte. Andererseits, nackt kann Kappe seine Klara auch nicht aus dem Haus gehen lassen, seit der zweiten Geburt sowieso nicht mehr. Dick ist sie geworden.

      Er schämt sich für solche Gedanken, als er an Mietskasernen in den Farben Blassgrau, Hellgrau und Dunkelgrau vorbei zum gelben Viertel marschiert.

      Das kennen nicht viele in Berlin. Nur selten liest man in der Zeitung davon. Zwar ist es, mit New York verglichen, nur ein klitzekleines Chinatown, aber immerhin wohnen hier viele Händler.

      Auch Kappe hatte sich bislang nicht sonderlich um dieses Viertel gekümmert. Mit der Farbe Gelb, stellt er nun fest, hat es nur rudimentär zu tun. Schön wär’s, wenn’s so wäre, denkt er sich: sonnengelbe Vorderhäuser, zitronengelbe Seitenflügel und maisgelbe Hinterhäuser. Er verharrt noch für einen Moment in diesem Tagtraum. Dann ist er angekommen im Geviert der Markusstraße, der Langen Straße, der Kraut- und der Andreasstraße, wo die chinesischen Händler hausen.

      Zu sagen, ihre Hautfarbe sei gelb, wäre vermessen. Sie ist eher ein ockerartiges Grau.

      Die Häuser sind wie überall in den Armutsvierteln des neuen, seit 1921 dank der Eingemeindungen auf gut 3,8 Millionen Einwohner angewachsenen Groß-Berlin tristgrau. Und das ist weniger eine Farbe als vielmehr ein Zustand.

      Notausgänge aus diesem Leben gibt es hier in dieser Gegend häufiger als sonst wo. In jedem zweiten, dritten Haus ist eine Budike oder ein Bouillonkeller untergebracht. Nichts glänzt wie in den großen Revuetheatern, allenfalls die Augen der Betrunkenen. Aber flüchten aus dem Alltagsdasein, das hier gleichbedeutend ist mit auf engstem Raum zur Untermiete Wohnen, oft ohne elektrisches Licht und Bad, das kann man in diesen Gaststätten. Dazu braucht man keine Glitzerwelt, nur Alkohol. Und den gibt es, viel und billig. Und wem das nicht genügt, der macht endgültig Schluss. Eine Flucht ohne Wiederkehr, ein Sprung aus dem vierten Stock oder ein Schuss mit einem der Revolver, die es ja an jeder Ecke zu kaufen gibt.

      1200 Mal im Jahr gelingt so eine letzte, endgültige Flucht in Berlin. Diese Zahl aus der polizeilichen Statistik hat sich Kappe gemerkt. Also jede Woche 23 Selbstmörder.

      Weiter kommt Kappe in seinen melancholischen Gedanken nicht. Das ist auch gut so. Er ist ja weder Reichsbedenkenträger noch Heilsarmee-Oberst. Und jetzt ist er erst einmal pitschepatschenass, stinkt und wird von drei kleinen Chinesen ausgelacht, von denen keiner älter ist als vier.

      Sie tragen trotz des eisigen Windes Hosen mit einem Schlitz am Hintern. Das spart Windeln.

      Aber Kappe ist nicht danach, sich über nackte Kinderpopos zu amüsieren. Er klaubt sich erst einmal die Pilzreste aus den Haaren, die zusammen mit dem brackbraunen Wasser über ihn kamen.

      Jemand hatte getrocknete Holzohrpilze eingelegt und das Wasser auf die Straße gekippt. Freilich ohne zuvor zu schauen. Wer schaut hier auch schon

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