Das schöne Fräulein Li. Peter Brock

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Das schöne Fräulein Li - Peter Brock

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vom Schlesischen Bahnhof«, sitzt ja schon in Untersuchungshaft, beruhigt sich Kappe. Verrückt, was ihm in diesem Moment alles durch den Kopf schießt. So viel, dass er sich nicht rechtzeitig erheben und vorstellen kann.

      «Das ist Lienhwa Li, meine Nichte», sagt Herr Li. «Sie studiert hier an der Hochschule für Politik gemeinsam mit meinem Sohn.» Und dann zu seiner Nichte geneigt: «Und dies, liebe Lienhwa, ist Kommissar Hermann Kappe.»

      Erst als er diesen Satz wiederholt bekommt, steht Kappe auf und gibt Fräulein Li artig und unsicher wie ein kleines Kind die Hand und verharrt mit auf sie gerichteten Augen.

      Herr Li rettet die Situation, indem er seine Nichte bittet, sich zu ihnen zu setzen. Dann klingelt er erneut, damit die Teetassenarm-Chinesin auch der Nichte grünes heißes Wasser eingießen kann.

      Aber Kappe achtet nicht darauf. Seine Augen und Gedanken haben ein neues Ziel gefunden. Die kleine Dienerin, an die denkt er längst nicht mehr, die Sorgen mit Klara, der Mord, all das scheint auf einmal weit weg zu sein. Kappe staunt nur noch. Über diese wunderschöne Erscheinung in weiblicher Gestalt und über sich, dass er sich als erfahrener Kommissar und Ehemann noch dermaßen aus den gut geschnürten Schuhen hauen lässt.

      Freilich, vollkommen unverständlich ist es auch für einen Außenstehenden nicht. Fräulein Li ist hübsch, hübscher als alle Chinesinnen, die Kappe jemals gesehen hat. Aber mehr noch, und das macht es erst richtig problematisch, sie ist attraktiver als alle Frauen, denen Kappe jemals begegnet ist. Diese Grübchen beim Lächeln links und rechts der kleinen Stupsnase, diese kleinen Fältchen neben den mandelförmigen Augen, diese schon aus der Ferne pfirsichzart wirkende Haut, dieser jugendliche, schlanke Körper, den man unter dem ausgesucht eleganten, hellgrauen, schlichten Kleid gut erahnen kann.

      Kappe stottert seine Fragen mehr, als dass er sie preußisch beamtenhaft vorträgt. Natürlich bestätigt Fräulein Li das Alibi ihres Onkels, aber Kappe hört es nicht. Er hört nur den Klang ihrer Stimme, der so jung und zart ist.

      Ihr in chinesischer Sprache geschulter Singsang nimmt den deutschen Worten jegliche Härte und betont die Vokale anders, manchmal falsch, aber auf jeden Fall reizend. Sicher kommt sie auch aus Südchina, wie die meisten in Berlin lebenden Chinesen, spricht Kantonesisch und hat für jeden Vokal neun verschiedene Tonhöhen, während Hochchinesisch ja nur vier verschiedene Tonlagen kennt.

      Tam hat ihm das erklärt.

      Dass er ausgerechnet jetzt daran denken muss! Was hat sie gesagt? Kappe ist verwirrt.

      Lienhwa Li schließt den Mund mit einem stillen, reinen Lächeln. Einen Moment lang schaut sie Kappe an, dann senken sich ihre Augen auf die über dem Schoß gefalteten Hände.

      «Wenn Sie keine Fragen mehr haben, lassen wir Lienhwa wieder ans Studieren gehen, nicht wahr?»

      Obwohl Kappe die Frage von Herrn Li hört, öffnet er den Mund nicht für eine Antwort. Er fürchtet, dass sich sonst seine Gedanken, denen er nachhängt, unbewusst einen Weg zur Zunge bahnen und als Worte für jeden hörbar werden könnten. Und nichts wäre peinlicher als das. Kappe nickt deshalb nur.

      Fräulein Li verabschiedet sich.

      DREI

      VIELLEICHT IST IHR VATER JA PERVERS. Und ihr Großvater auch. Denn wenn die Töne, die sie so schön finden, Ausdruck tiefster, dunkelster Verzweiflung sind – und vieles spricht dafür –, wenn diese Klänge Einsamkeit, Trauer und Todesangst widerspiegeln, wäre es doch pervers, sich daran zu erfreuen. Aber sie tun es. Seit Kweihwa Li ein Kind war, tun sie es. So wie viele Männer. Eigentlich wie alle älteren Männer, die sie kennt. Erst jetzt merkt sie, dass sie sich noch nie überlegt hat, wie sich die Grillen dabei fühlen. Nun singen sie wieder. Laut und schrill. Kweihwa Li tritt aus der Schlange, in die sie sich vor der kleinen Post in Qingtian eingereiht hat, und beugt ihren schlanken Körper ein wenig zu dem alten Mann hinunter, der auf der Straße hockt und vor sich zwei Dutzend Tontöpfe mit lebendem Inhalt aufgestellt hat.

      In sechs darüber gestapelten kleinen Korbkäfigen, durch deren enges Geflecht man die Insekten mehr erahnen als sehen kann, zirpen Tiere vor sich hin. Sie symbolisieren das Frühjahr.

      Das ist nun da. Ihr Großvater freut sich seit Jahren, wenn er diesen Klang der sprießenden Natur, der wärmer strahlenden Sonne über den Winter retten kann, wenn seine Grille überlebt. Aber sie muss ihre Tage in einem kleinen, engen, dunklen Gefängnis fristen. Und vielleicht ändert sich deshalb im Laufe der Zeit ihr Klang, vielleicht sind es bald nicht mehr die Töne des Frühjahrs, die sie zum Besten gibt, sondern die der Einsamkeit und der Todesangst.

      Kweihwa Li hat sich noch nie Gedanken gemacht über Grillen, seit sie vor neunzehn Jahren auf die Welt gekommen ist. Aber nun steht sie da auf der staubigen Straße hinter den Müttern, die Post von ihren Söhnen erwarten, und den Männern, die sich Geschäftsbriefe erhoffen mit neuen Bestellungen für Schnitzereien.

      Und Kweihwa Li? Sie hofft auf einen Brief ihrer Schwester. Sicher wird Lienhwa wieder von ihrem politischen Kampf gegen die Ungerechtigkeit schreiben, denkt sie, von ihren Diskussionen mit kommunistischen Studenten in Berlin und ihrem Streben danach, allen Frauen Zugang zur Bildung zu verschaffen. Sie schreibt das immer so ernst, als wolle sie eine Rede halten.

      Kweihwa Li hat nie verstanden, warum sie ihr das schreibt, hat das doch mit ihrem Leben hier nichts zu tun, denkt sie. Die Kommunisten kämpfen in Peking oder Shanghai. Und Freiheit, Gleichberechtigung? Ihr Vater wird schon wissen, was gut für sie ist. Wenn man sich um etwas kümmern könnte, dann vielleicht um die Freiheit der Grillen.

      Aber bald hat sie auch diese vergessen. Mit kleinen schnellen Schritten tippelt sie auf ihrem Rückweg aus der Post an den Tierchen vorbei, den Brief in den Händen. Sie will ihn erst zu Hause öffnen und alleine auf der Bank hinterm Haus lesen.

      Liebe Kweihwa,

      meinen Dank will ich Dir zuerst übermitteln für den schönen Anhänger und den feinen Tee. Das bringt mir ein Stück Heimat in der Ferne. Das ist lieb. Ich denke oft an Dich und hoffe, dass es Dir gut geht, Mama und Papa auch. Ich schreibe ihnen ja gleich noch einen eigenen Brief. Oft denke ich, wie schön es doch wäre, wenn Du mich hier besuchen könntest. Und wir könnten in Revuen gehen und in Clubs. Da wird getanzt. Manche Frauen, Du wirst es nicht glauben, tanzen hier ganz nackt. Ausdruckstanz nennen sie das. Aber es gibt auch Ausdruckstanz, bei dem die Frauen angezogen sind. Sicher, die Nackten, das ist eher was für Männer. Und manche der Frauen verkaufen sich auch. Eine hat mir mal erzählt, wenn man genug Kokain nimmt (das wird hier genommen und nicht so häufig Opium wie bei uns), dann mache es einem gar nichts mehr aus, mit verschiedenen Männern … Dann mache das sogar Spaß. Du siehst, man kommt hier sogar mit solchen Menschen in Kontakt. Aber nein, liebe Kweihwa, hab keine Angst! Deine Schwester macht so etwas nicht.

      Aber ich muss zugeben, es ist hier schon offener. Also man küsst sich schneller als bei uns, und dass man einen Freund hat, bevor man heiratet, das ist auch normal. Ach, erst neulich traf ich einen sehr netten schüchternen Mann, einen älteren, bärtigen. Zugegeben, er ist verheiratet, und er ist wohl auch nichts für mich, aber es ist schön, dass es Männer gibt, die so ganz anders sind als unsere. Nicht so dem Patriarchat verhaftet. Ach, welch Wort verwende ich hier, Schwester –ich meine, einfach nicht so lautsprecherisch. Ganz im Gegenteil, er ist so zurückhaltend, so … Na ja, ich glaube jedenfalls, ich habe ihn sogar verlegen gemacht. Stell Dir das mal vor, ich mache einen ausgewachsenen deutschen Mann verlegen! Und dabei ist er sogar Polizist. Ach ja, das hab ich Dir noch gar nicht geschrieben: Ein Händler von Onkels Konkurrent wurde erschlagen. Schlimm! Ein Mord! Wir als Konkurrenz sind verdächtigt worden. Wie absurd! Noch hat die Polizei keinen Täter. Der Bärtige sucht nach ihm.

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