"Rosen für den Mörder". Johannes Sachslehner
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Das alte „polnische“ Wilna: Die „Pohulanka“ wurde zur Jono-Basanavičiaus-Straße. Ansichtskarte, um 1916.
Einen oder zwei Tage später treffen Hingst und Murer in Wilna ein, begleitet werden sie von sechs oder sieben Mitarbeitern – Murer nennt sie in seiner autobiografischen Skizze abschätzig „Hilfskräfte“. Erste Unterkunft ist ein Hotel, da das vorgesehene „Dienstgebäude“ in der Wilnastraße noch nicht fertig eingerichtet ist. Murer wird später eine Wohnung in der Steinstraße 2 – bis 1987 Kamienna, heute Kalinausko gatve – zugewiesen, die er sich allerdings mit einem Kameraden aus Krössinsee, dem Ordensjunker Heinrich Lackner, teilen muss. Lackner, ehemals als Gastwirt und Kaufmann tätig, ist 1912 in Himmelberg, Kärnten, geboren und für seine Teilnahme am Juliputsch 1934 mit dem Blutorden der Partei ausgezeichnet worden. Im Gebietskommissariat leitet er die AbteilungenVerwaltung und Politik. Die beiden Ordensjunker haben eigene Schlafzimmer, teilen sich aber den Wohnraum. Auch ihr Chef, Hans Christian Hingst, hat seine Wohnung in diesem Haus. Die Verteidigung wird im Prozess 1963 als Entlastungszeugen auch Lackner vorladen, der Kärntner Blutordensträger lässt seinen alten Kumpel auch nicht im Stich: In der Schilderung Lackners ist Murer ein harmloser Zivilbeamter, das Gebietskommissariat habe sogar als „judenfreundlich“ gegolten. In den Geheimberichten, die er von einer Jüdin aus dem Ghetto erhalten habe, sei der Name Murer nie vorgekommen.
Tatsächlich übernimmt der Steirer die „Kernzuständigkeiten“ (Christoph Dieckmann) des Gebietskommissariats: Judentum, Polizei, Volkstums- und Siedlungsfragen, Preisbindung und -überwachung sowie das Verkehrswesen. Sein für das jüdische Vermögen zuständiger Mitarbeiter ist der Litauendeutsche August Kühn, ein ehemaliger Volksschullehrer, der nun in Iserlohe, Westfalen, lebt. Auch er wird 1963 zum Prozesss nach Graz vorgeladen und auch er bestätigt, wie korrekt und fürsorglich Murer gewesen sei: „Murer war Adjutant des Gebietskommissars und Referent für Landwirtschaft, Preisüberwachung und Fahrbereitschaft. Mit Juden hat er nur in wirtschaftlichen Sachen zu tun gehabt. Bei der Errichtung des Ghettos war er Vertreter des Gebietskommissars. Murer war oft im Ghetto und ich bin ein einziges Mal mit ihm gewesen. Sein Ruf im Ghetto war nicht schlecht. Man hat nichts Schlechtes über ihn gehört. (…) Es ist mir völlig unbekannt, daß Murer von den Juden so gefürchtet war.“ (Zitiert nach Gerichtsakt Franz Murer, Steirmärkisches Landesarchiv.)
Ein Mädchen erlebt Franz Murer:
Mascha Rolnikaite
Mascha Rolnikaite ist 13, als die Deutschen nach Wilna kommen, in wenigen Wochen, am 21. Juli, will sie ihren 14. Geburtstag feiern. Ihr Vater, der jüdische Rechtsanwalt Dr. Hirsch Rolnik, hat in Leipzig promoviert und spricht fließend Deutsch, ihre Mutter Taiba Rolnikene kümmert sich um den Haushalt. Die Familie – Mascha hat noch drei Geschwister: die 16-jährige Schwester Mira, den 5-jährigen Bruder Ruwele und die 7-jährige Schwester Rajele – ist erst 1940 aus der nordwestlitauischen Kleinstadt Plunge nach Wilna gezogen und hat eine Wohnung im zweiten Stock in der Deutschen Straße 26 gemietet. Am Sonntag, dem 22. Juni 1941, dem Tag des ersten Bombenangriffs der deutschen Luftwaffe auf Wilna, bricht ihre Welt zusammen. Ein Fluchtversuch der Mutter mit den vier Kindern in Richtung Minsk scheitert im Chaos, der Vater Hirsch Rolnik wird von seiner Familie getrennt. Von den Fenstern ihrer Wohnung aus beobachten Mira und Mascha am 24. Juni den Einmarsch der Deutschen. Die „schwarze Spinne, das faschistische Hakenkreuz, macht uns große Angst“, schreibt Mascha in ihrem Tagebuch. Auf Zetteln und Papierschnipseln notiert sie von nun an den Leidensweg der Familie, immer mit der Gefahr lebend, dass ihre Aufzeichnungen bei einer Hausdurchsuchung entdeckt werden könnten – Franz Murer, so befürchtet sie, würde sie und alle anderen Hausbewohner auf der Stelle erschießen lassen.
Befürchtet von Murer erschossen zu werden: Mascha Rolnikaite. Ihr Tagebuch, eine wichtige Quelle für das Schicksal der Wilnaer Juden, wird erst nach dem Grazer Prozess gegen den Steirer publiziert.
Maschas Geburtstag wird trotz des Schreckens gefeiert. „Als Mama mir gratuliert und ein langes Leben gewünscht hat, ist sie in Tränen ausgebrochen. Wie oft habe ich diesen einfachen Glückwunsch gehört und mir nichts dabei gedacht: Dabei ist er so bedeutungsvoll …“ (Zitiert nach Mascha Rolnikaite, Ich muss erzählen.)
Berauben, erpressen, vernichten
Die erste Aufgabe des Gebietskommissariats: Es muss sich seinen Platz im Reigen der einzelnen NS-Dienststellen erkämpfen. Da ist einmal die Wehrmachtsfeldkommandantur, Gestapo, SD und Sicherheitspolizei (Sipo) haben sich ebenfalls bereits in der Stadt eingenistet, später kommt auch noch eine SS- und Polizeistandortkommandantur dazu, die von dem aus Preußisch Stargard stammenden SS- und Polizeiführer Lucian Wysocki (1899–1964) geleitet wird. Und es gibt eine intakte litauische Stadtverwaltung mit dem litauischen Bürgermeister Karolis Dabulevičius an der Spitze, die zum unmittelbaren Ansprechpartner oder besser „Befehlsempfänger“ wird. Parallel zum Gebietskommissariat Wilna-Stadt wird das Gebietskommissariat Wilna-Land eingerichtet, dem der SA- und spätere SS-Angehörige Horst Wulff (1907–1945), ein ehemaliger Hotelkaufmann, als Gebietskommissar vorsteht.
Die Arbeitsrichtlinien und Verordnungen von Rosenbergs Ministerium für die Zivilverwaltung in den Reichskommissariaten Ostland und Ukraine ergehen schließlich am 3. September 1941, zusammengefasst in einer Dokumentensammlung, die als Braune Mappe bekannt geworden ist. Die Aufgabe des Gebietskommissars wird darin folgendermaßen definiert: „Der Gebietskommissar leitet als untere Verwaltungsbehörde im Kreisgebiet die gesamte Verwaltung nach den Weisungen des Generalkommissars und der übergeordneten Dienststellen. Bei ihm liegt daher das Schwergewicht der gesamten Verwaltung.“ Und in den „Arbeitsrichtlinien“ für die Zivilverwalter heißt es: „Die erste Aufgabe der Verwaltung in den besetzten Ostgebieten ist, die Interessen des Reiches zu vertreten. Dieser oberste Grundsatz ist bei allen Maßnahmen und Überlegungen voranzustellen. Zwar sollen die besetzten Gebiete in späterer Zukunft in dieser oder jener noch zu bestimmenden Form ihr Eigenleben führen können. Sie bleiben jedoch Teile des großdeutschen Lebensraumes und sind stets unter diesem Leitgedanken zu regieren.“ (Zitiert nach Franz Albert Heinen, Gottlos, schamlos, gewissenlos.)
Breiten Raum nehmen in diesen „Arbeitsrichtlinien“ von Rosenbergs Ostministerium die „Richtlinien für die Behandlung der Judenfrage“ ein, die systematisch die weitere Isolierung und umfassende Entrechtung der jüdischen Bevölkerung einfordern. Ein „etwaiges Vorgehen der örtlichen Zivilbevölkerung gegen die Juden“, so ein wichtiger Punkt, sei nicht zu hindern, gerne überlässt man das Morden wie in Kaunas litauischen Faschisten und Totschlägern. Ein „erstes Hauptziel der deutschen Maßnahmen“ müsse es sein, das „Judentum streng von der übrigen Bevölkerung abzusondern“,