Auge um Auge. Horst Bosetzky
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Kriminalkommissar Hermann Kappe vor der Pensionierung – 44 Jahre auf Verbrecherjagd
Seinen ersten Fall hat er noch zu Kaisers Zeiten gelöst: 1910 ging es um eine verkohlte Leiche in Moabit. Da war er gerade aus Storkow nach Berlin gekommen. Das Licht der Welt hat Hermann Kappe am 11. Februar 1888 in Wendisch Rietz erblickt. Sein Vater wie sein Großvater waren Fischer, und auch er hat heute gelegentlich mit Fischen zu tun, mit «nassen Fischen», wie man im Jargon der Kripo die ungelösten Fälle nennt.
Als Junge spielte er am liebsten Räuber und Gendarm, und so zog es Hermann Kappe nach Ende seiner Schulzeit auch zur Polizei. Bald durfte er in Storkow für Ruhe und Ordnung sorgen. Eines Nachts hob er dort ein Blechschild auf, das Diebe in einem Eisenbahnwaggon abgeschraubt hatten, und steckte es in die Brusttasche seiner Uniform. Dieses Schild sollte ihm wenig später das Leben retten. In einer Villa am Storkower See hatte ein Einbrecher den Major Ferdinand von Vielitz in seine Gewalt gebracht. Als Kappe den Einbrecher überwältigen wollte, schoss der ihm in die Brust – und die Kugel blieb in dem Blechschild stecken. So konnte Kappe den Bösewicht doch noch hinter Schloss und Riegel bringen. Zum Dank ließ der Major seine Beziehungen spielen und verschaffte ihm eine Stelle bei der Berliner Kriminalpolizei. Dort ging Kappe beim großen Ernst Gennat in die Schule – und ist inzwischen fast schon selbst eine Legende.
Ende Juli wird Hermann Kappe in den Ruhestand eintreten, und das lässt ihn schon heute ein wenig unruhig werden. «Ich gespannt auf meinen letzten Fall und hoffe, bei der Ergreifung des Täters nicht den Heldentod zu sterben», sagt der altgediente Kommissar und legt dabei ein verschmitztes Lächeln an den Tag. «Aber was ich schon alles überlebt habe! Den Kaiser, Adolf Hitler und die Naziherrschaft, die Bomben der Alliierten, das Kriegsende, die Blockade …ganz abgesehen einmal von den vielen Kugeln, die Täter auf mich abgefeuert haben. Da kommt schon einiges zusammen.» Über die Frage, wie viele Mörder er in seinen langen Dienstjahren festgenommen habe, muss Kappe einige Sekunden nachdenken. «Nehmen wir bloß einmal fünf bis sechs im Jahr, dann sind das fast 250 – unglaublich!» Ob er nicht Angst habe, dass sich mancher Verbrecher an ihm rächen wolle, wenn er wieder auf freiem Fuße ist? Erneut lächelt Kappe. «Nein. Die meisten bekommen ja lebenslänglich.» Auf die Frage, ob er schon einmal einem Täter aus Mitleid die Flucht ermöglicht habe, weiß Kappe schnell eine Antwort. «Keinem Täter, aber einem Tatverdächtigen. Das war ein Jude, der sich in einer Wilmersdorfer Laubenkolonie versteckt hatte. Und einem Täter wäre ich vor Freude sogar um den Hals gefallen, wenn es ihn denn gegeben hätte: dem Mörder Adolf Hitlers.»
Kappe war schon immer ein verkappter Sozialdemokrat, und dass er jetzt sogar ordentliches SPD-Mitglied ist, kommentiert er mit einer gehörigen Portion Selbstironie. «Da gehöre ich hin. Und was soll Lenin über uns gesagt haben? ‹Revolution in Deutschland? Das wird nie etwas. Wenn diese Deutschen einen Bahnhof stürmen wollen, kaufen die sich eine Bahnsteigkarte!›» Neben der Mörderjagd waren für Hermann Kappe immer seine Frau und seine drei Kinder sehr wichtig. Als wir auf seine Familie zu sprechen kommen, kann er ein leises Stöhnen jedoch nicht ganz unterdrücken. «Mein Ältester ist zwar in meine Fußstapfen getreten, aber zur Kripo in Ost-Berlin gegangen – und Mitglied der SED ist er auch noch!»
Was er sich am meisten wünsche, frage ich Hermann Kappe zum Abschluss unseres Gesprächs. «Das, was im RIAS immer gesungen wird: ‹Der Insulaner hofft unbeirrt, dass seine Insel wieder ’n schönes Festland wird› …Die deutsche Wiedervereinigung.» Bis dahin wird es noch viele Morde geben, aber die aufzuklären wird Aufgabe der jüngeren Kollegen sein, unter denen auch sein Neffe Otto zu finden ist. «Noch aber bin ich im Dienst», betont Hermann Kappe, «und mir gehört der nächste Fall!»
ZWEI
DIE FREIE UNIVERSITÄT BERLIN, kurz FU, war ein Kind des Kalten Krieges. Die alte Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität lag im Ostsektor und sollte nach dem Willen der sowjetischen Machthaber zur kommunistischen Kaderschmiede werden. Wer sich dem aktiv widersetzte, als Lehrender wie als Lernender, wurde verhaftet, in die Sowjetunion verschleppt oder sogar hingerichtet. Dennoch gab es heftige Proteste, und Ende April 1948 regte der amerikanische Militärgouverneur Lucius D. Clay die Gründung einer freien Universität in den Westsektoren an. So wurde schließlich am 4. Dezember 1948 – zur Zeit der Berlin-Blockade – die FU Berlin gegründet. Im vornehmen Ortsteil Dahlem, im amerikanischen Sektor also, hielt man in den Gebäuden der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft die ersten Lehrveranstaltungen ab. In deren unmittelbarer Umgebung wurde dann zur Unterbringung der einzelnen Institute eine Villa nach der anderen angemietet, so dass bald ein geradezu idyllisches Universitätsviertel entstand. Als Leitmotiv hatte sich die FU die Werte Veritas – Iustitia – Libertas, also Wahrheit, Gerechtigkeit und Freiheit, auf die Fahnen geschrieben. Gründungsrektor der Universität war der Historiker Friedrich Meinecke.
In dem nach ihm benannten Institut in der Altensteinstraße 40 arbeitete der Oberasssistent Dr. Karl-Heinz Waschinsky. Am liebsten tat er das an Sonn- und Feiertagen, weil ihn dann niemand störte. Unter der Woche verging kaum eine Viertelstunde, in der nicht ein Student, ein Kollege oder eine Sekretärin mit einem Anliegen an die Tür klopfte. Wenn Waschinsky an seiner Habilitationsschrift über die «Euthanasie» im Nationalsozialismus saß, wollte er seine Ruhe haben. Es machte ihn regelrecht krank, wenn er ständig aus seiner Arbeit gerissen wurde, und er hatte einmal gesagt, es ginge ihm wie einem Taucher: Wenn man den aus hundert Metern Tiefe ruckartig nach oben zöge, dann krepiere der auch.
Auf dem Abreißkalender an der Wand leuchte eine rote 4, darüber stand in schwarzer Schrift Sonntag und darunter April. Die Zeit musste er von seiner klobigen Armbanduhr ablesen. «Nach acht schon», murmelte er. «Nach acht schon.» Seine Ärzte hatten ihm erklärt, dass er unter einem komplexen vokalen Tic litt, unter der sogenannten Palilalie, was bedeutete, dass er automatisch die letzten von ihm gesprochenen Worte oder Sätze wiederholte. Man kannte das aus dem Film Feuerzangenbowle, in der ein Oberschulrat unter dieser Auffälligkeit litt. Bei Waschinsky hatte keiner das Leiden abstellen können. Es gab Schlimmeres.
Durch das Werk von Ernst Haeckel hatte er sich schon hindurchgearbeitet und sich am Schluss notiert:
Verweist auf die Tötung behinderter Kinder im antiken Sparta und bei den Indianern Nordamerikas. Nach Quellen suchen!
Nun war er dabei, sich mit Alexander Tille auseinanderzusetzen. Der hatte von 1866 bis 1912 gelebt und sich als Germanist, Philosoph und Funktionär mehrerer Wirtschaftsverbände hervorgetan. 1895 hatte er Von Darwin bis Nietzsche veröffentlicht, eine Abhandlung zur Entwicklungsethik. Waschinsky las mit höchster Konzentration und machte sich immer wieder Notizen wie die:
Plädiert für eine Fortpflanzungsbegrenzung bei «Schwachen». Man solle sie zudem auf die unterste soziale Stufe sinken lassen, da dort die Lebenserwartung gering sei. Nennt das Sozial-Euthanasie.
Waschinsky fuhr zusammen, denn an der Eingangstür wurde geschlossen. Einbrecher!, schoss es ihm durch den Kopf. Sein Fenster ging nach hinten raus, und deshalb konnte man von der Straße aus nicht sehen, dass bei ihm noch Licht brannte. In den Villen, die von der FU angemietet worden waren, gab es nicht viel zu holen, aber auch Schreibmaschinen, mochten sie noch so alt sein, hatten in diesen Zeiten ihren Wert. Waschinsky überlegte, ob er zum Telefon greifen oder sich hinter seinem Schrank verstecken sollte. Nein, klüger war es sich einzuschließen. Er zitterte, als er den Schlüssel herumgedreht hatte. Einmal, zweimal. Da schrie jemand etwas zu ihm in die erste Etage hinauf: «Ist da oben jemand?»
Das war sein Chef, der Institutsleiter Prof. Dr. Paul Schlipalius. Waschinsky schloss wieder auf und rief nach unten, dass er es sei.
Schlipalius antwortete: «Hallo und guten Abend!