Auge um Auge. Horst Bosetzky
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Seine Mutter unterbrach ihn. «Thomas, bitte, das müssen wir nicht unbedingt hier beim Mittagessen erörtern!» Dabei ging ihr Blick in Richtung des jüngsten Sohns.
«Ich kann schon Zeitung lesen, Mutti!» Dass seine Klassenkameraden die Szene aus der Muthesiusstraße heute in der Pause nachgespielt hatten, verschwieg er lieber. Aber eine wichtige Frage hatte er doch noch. «Gibt es heute zum Nachtisch keinen Pudding?»
«Nein, das ist zu süß.»
Als sie mit dem Essen fertig waren und gerade vom Tisch aufstehen wollten, schrillte draußen im Flur die elektrische Klingel.
«Das wird Herr Schötzke sein, der Kammerjäger», sagte Margarete Mialla. «Wir haben ihn für heute bestellt.»
Mialla staunte. «Warum denn das?»
«Wir haben Motten in der Küche.»
«Besser in der Küche als in der Lunge», brummte Mialla.
«Dazu noch Mäuse im Keller und Ratten im Garten und im Schuppen», fügte Thomas Mialla hinzu. «Es lohnt sich also.»
Erich Mialla musste, wollte er ins Schlafzimmer hinauf, an Schötzke vorbei. Der Kammerjäger war gerade dabei, Trudchen den Unterschied zwischen einer Lebensmittel- und einer Kleidermotte zu erklären. «Die Lebensmittel-, Speise- oder Küchenmotten sind Vorratsschädlinge und gehören zur Familie der Zünsler. Die Dörrobstmotte ist braun-weiß, die Mehlmotte silbrig grau und der Mehlzünsler braungelb. Die Kleidermotte kommt aus der Familie der Echten Motten und ist eigentlich ein Schmetterling.»
Mialla begrüßte Schötzke mit ein paar knappen Worten und ging dann auf der Wendeltreppe in die erste Etage hinauf. «Und schießen Sie nicht so laut auf unsere Motten und Mäuse!», rief er dem Kammerjäger noch zu. «Ich brauche jetzt meine Stunde Mittagsschlaf, ehe es wieder in die Praxis geht.»
FÜNF
DER OBERARZT erklärte Karl-Heinz Waschinsky, warum er trotz eines Bauchschusses überlebt hatte. «Sie hatten Glück im Unglück. Im Bauch verlaufen große Schlagadern, und wenn die zerrissen werden, verblutet man sehr schnell. Bei Ihnen aber hat die Kugel glücklicherweise keine dieser Adern getroffen. Auch die Leber ist Gott sei Dank verschont geblieben, eine Leberblutung führt innerhalb sehr kurzer Zeit zum Tod. Durch die Schusswunde sind zwar Magen- und Darminhalt in die Bauchhöhle gelangt, aber dadurch, dass wir schnell eingreifen konnten, haben wir eine Sepsis verhindert.»
Waschinsky versuchte zu lächeln. «Gut, dass es mich in der Muthesiusstraße erwischt hat und nicht auf den Schlachtfeldern von Smolensk, Kiew, Wjasma, Brjansk oder Rostow!»
«Man merkt, dass Sie Historiker sind. Hoffentlich gehören Sie nicht auch zu den Bergsteigern.»
«Nein. Wieso?»
«Weil wir Ihnen am linken Oberschenkel einiges vom Musculus rectus femoris wegschneiden mussten und Sie in Zukunft mit der Hebung des Beines einige Schwierigkeiten haben werden.»
Waschinsky nahm auch das mit Humor. «Oh, dann muss ich auf meine geplante Monographie über Bergfestungen wohl verzichten und meinen Besuch der Trutzburgen der Tuschen und Chewsuren im Kaukasus streichen.»
«Da haben Sie leider recht, aber die Burg Beeskow ist auch sehr schön.»
«Schon», merkte Franz Altmann an, einer von Waschinskys Bettnachbarn, «aber da kommt man schwerer hin als nach Tiflis.» West-Berlinern war seit Mai 1952 die Einreise in die DDR grundsätzlich verwehrt. «Man kann zwar eine Erlaubnis beantragen, in der Praxis wird sie aber immer abgelehnt.»
«Bei mir nicht», stellte Waschinsky fest. Er hatte sowjetische Kollegen, die einiges möglich machen konnten. «Bei mir nicht.»
«Dafür wird auf Sie geschossen, auf mich aber nicht», konterte Altmann. Er war altgedienter SPD-Funktionär und derzeit Kassierer eines Wilmersdorfer Ortsvereins. Wie alle seine Genossen war er im Moment ziemlich missgestimmt, denn zum ersten Mal nach Kriegsende stellte die CDU den Regierenden Bürgermeister. Dem charismatischen Ernst Reuter war der farblose Langweiler Walther Schreiber gefolgt. Die SPD war zwar immer noch die weitaus stärkste Partei in West-Berlin, aber CDU und FDP hatten zusammen ein paar Prozent mehr an Stimmen bekommen.
«Ja, ja, der Kreislauf der Eliten», spottete Waschinsky, «der Kreislauf der Eliten. Man denke nur an Vilfredo Paretos, der die Geschichte als Friedhof der Aristokratien bezeichnet hat. Jetzt sind Sie und Ihre Partei nur noch das, was er unter Reserve-Elite versteht, unter Reserve-Elite versteht.» Waschinsky registrierte genau, dass er seine letzten Worte wiederholte, schaffte es aber auch heute nicht, diesen Reflex zu unterdrücken.
«Hör’n Se uff mit der Reservebank!», rief der Mann im Bett gegenüber, der Fußballer Werner Eichhorn von Tasmania 1900. «Uff der hab ick so lange jesessen, bis ick mir Hämmerrieden jeholt habe.»
Ja, ja, dachte Waschinsky, von denen, die sie haben, wissen höchstens zehn Prozent, wie man sie schreibt.
Der vierte Mann im Zimmer war der Elektrohändler Helmut Haberkorn, der sich stundenlang darüber auslassen konnte, welches Fernsehgerät das beste war. «AEG-Telefunken und Metz sind nicht schlecht, der Rembrand vom Sachsenwerk ist auch in Ordnung, ebenso empfehlenswert ist die Fernsehtruhe F 2 von Graetz, aber an der Spitze liegt für mich eindeutig der WELTFUNK von Krefft aus Gevelsberg: Was heute in der Welt geschehen, kannst du im WELTFUNK abends sehen.»
«Zur Weltmeisterschaft muss ick unbedingt ’n Fernseher ham!», rief Eichhorn. «Det heißt, wenn ick bis dahin noch lebe.» Das war fraglich, denn die Ärzte fürchteten, dass sein Magenkrebs schon Tochterzellen gebildet hatte.
«Die Fußball-WM ist doch völlig unnötig», merkte Altmann an. «Die können den Ungarn auch sofort den Pokal überreichen.»
«Bloß nicht!», rief Haberkorn. «Dann kauft sich ja keiner mehr einen WELTFUNK-Apparat.»
Altmann hatte prinzipiell etwas gegen den Fußball. «Der ganze Rummel ist doch nur dazu da, um von der Politik abzulenken. Fußball ist Opium für das Volk. Anstatt diesem Globke und den anderen Obernazis, die noch in Amt und Würden sind, endlich den Prozess zu machen, haben die Deutschen nichts anderes im Kopf als ihren Fußball.»
«Besser, die Leute beten Fritz Walter an als Adolf Hitler», sagte Waschinsky. «Aber Sie haben schon recht, das ist das alte Prinzip von panem et circenses, Brot und Spiele, Brot und Spiele. Das stammt aus einer Satire des römischen Dichters Juvenal, Juvenal, der damit die Entpolitisierung des Volkes kritisiert, kritisiert. Kaiser Trajan hat besonderen Wert auf die Unterhaltung der Massen gelegt und gesagt: Populum Romanum duabus praecipue rebus, annona et spectaculis, teneri. Übersetzt bedeutet dieser Satz, dass sich das römische Volk insbesondere durch zwei Dinge in Schach halten lasse: Getreide und Schauspiele. Getreide und Schauspiele.»
«Und Wagenrennen», fügte Altmann hinzu. «Den Roman konnte ich mal auswendig: Ben Hur.»
«Wat für ’ne Hure?», fragte der Fußballer.
Daraufhin arbeitete sich Waschinsky aus dem Bett und griff