Karl May. Jens Böttcher
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Mir persönlich kommt das alles ungemein spannend vor, eben echt und aufregend, ganz dem literarischen Werk des Künstlers entsprechend. Ich stelle es mir gerade vor: Die Grenzen von Realität und Fantasie verschwimmen, während der Schriftsteller und der Mensch May am Schreibtisch abwechselnd die Feder führen, die Worte formen sich auf Papier zu wunderbaren Geschichten, deren Held im Grunde immer eine fantastische und übertriebene Ausgabe des Verfassers selbst ist. So etwas ist womöglich schlimm, wenn einer Automechaniker ist und Chirurgen ausbildet oder wenn ein Hafenarbeiter sich irgendwann selbst für ein Schiff hält. Wenn man sich vor Augen hält, was für ein gewaltiges Werk bei Karl May daraus entstanden ist, erscheint es doch eher grandios und stimmig. May ist in all seinen schöngeistigen Fantastereien wohl eher lebendige Herausforderung, den Menschen, also in ihm auch uns, als Ganzes und Widersprüchliches zu betrachten. Seine Fantasie gab ihm eine überhöhte Wahrheit ein, die er zwar selbst nicht wirklich leben konnte, mit der er dann aber gleichzeitig unendlich vieles über den Menschen, der er war, und darüber hinaus den Menschen an sich, verriet. Und – das ist ja das Beste daran – mit der er unzählige Menschen glücklich machte. Ein professioneller Schizophrener eben. Und vielleicht gerade deshalb ein so hervorragender Geschichtenerzähler.
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In all dem war May eben auch dieser feurige Gläubige, der sich selbst mehr und mehr als Missionar sah und dabei zunächst einen Weg gegangen war, den viele von uns ebenfalls aus eigener Erfahrung kennen: Aus der persönlichen Enttäuschung der eigenen Lebensumstände entfaltet sich die Hinwendung zu Gott. Es folgt das zähe Hadern mit den Dogmen und gerade mit jenen Menschen, die sich am eindrucksvollsten als Gottes irdische Stellvertreter ausgeben. Dazu die kontinuierliche Suche nach Vollkommenheit (wahrscheinlich eine Künstlerkrankheit), der Versuch, sich weiterzuentwickeln, es zu schaffen, sich unterwegs zu krönen mit der Wahrheit, an einem Erkenntnisstand anzukommen, der uns verstehen und wissen lässt, wie »alles funktioniert«, nach welcher kosmischen Uhr jede Form von Leben tickt. Dann irgendwann die Ohnmacht, dass Gott, wie man »ihn« auch dreht und wendet, eben doch nicht als Ganzes verstanden werden kann, schließlich die Demut, das Sich-selbst-Ausliefern und Herunterbrechen auf das Einzige, das man als Mensch als göttliche Essenz wirklich spüren oder zumindest ahnen kann. Die Liebe. Die Vergebung. Die Gnade, die gerade jene Gläubigen verstehen, die wissen, wie es sich anfühlt, schuldig zu sein.
Vielleicht muss man bei diesen Gedankenspielen obendrein noch Folgendes berücksichtigen: Karl May war ja überzeugter Christ. Aber er hatte auch eine tiefe Seele, die eines Künstlers obendrein. Diese Kombination ist nicht selbstverständlich. Und sie ist sogar gefährlich. Für den Künstler, der auch Christ ist, ist es oft sehr viel schwieriger, irgendwo (buchstäblich) einen Fuß auf die Erde zu bekommen, als für einen Christen, der auch Künstler ist. Letztere haben es nämlich relativ leicht. Sie werden zwar von der Welt außerhalb des frommen Lagers meist ignoriert, dafür aber automatisch von den anderen Christen akzeptiert – wenn sie Glück und eine anständige Presseabteilung hinter sich haben, sogar geliebt. Die Künstler, die auch Christen sind wiederum, haben oft ein echtes Problem: Vielen dogmatischen Christen sind sie nicht christlich genug, da sie sich eine oft unstillbare Neugier aufs Weltliche bewahren, während sie dem Rest der Welt aufgrund ihres offen zur Schau getragenen Glaubens suspekt sind oder im schlimmsten Falle gar vollkommen irre erscheinen. Ein Künstler also, der Christ ist, dessen Herz aber für die Kunst ebenso wie für die Tiefen und Leiden der menschlichen Seele brennt, befindet sich zeitlebens an einem sehr merkwürdigen inneren Ort. Er gehört überall hin und kann nichts dagegen tun, jedenfalls nicht, ohne das Gefühl zu haben, sich, seine Sehnsucht, seine Liebe oder die Kunst zu verraten. Gleichzeitig gehört er eben nirgendwo hin. Das ist ein Zustand, den ganz sicher nicht jede sensible Seele aushalten würde. Die Flucht vor dem Dogma und kleinkarierter Engstirnigkeit verführt schließlich zur Zucht eines eigenen Neurosengartens, der sich schnell zu einem persönlichen Dogma auswuchert. Wenn man nun bedenkt, dass, wie im Falle Karl May, dieser Zustand der inneren Heimatlosigkeit sich zu einem wirklich dramatischen psychischen Konflikt ausweiten kann, zu einem möglicherweise unlösbaren, lebenslangen inneren Drama, an dem sowohl geschäftliches als auch seelisches Wohlergehen hängen, kann man vielleicht auch besser nachvollziehen, warum May so viele Kontroversen ausgelöst hat und zum Ende seines Lebens so viele Prozesse und Gerichtsverhandlungen über sich ergehen lassen musste. Und warum überhaupt er immer wieder in so furchtbar viele Fettnäpfe getreten hat, die auf den ersten Blick für uns externe Moralapostel nicht wirklich nachfühlbar sind, weil sie nicht vereinbar mit seinem Werk und erst recht nicht mit seinem Glauben scheinen. Im Licht dieses Erspürens von Mays teilweise dramatischen Seelenbewegungen wirken für mich auch viele von seinen »Irrwegen« deutlich nachvollziehbarer. Ebenso die in seinem Fall erfolgreiche Flucht nach vorn ins Ideal, in die Offensive der Verkündigung.
Die Mission, auf der May sich selbst sah, setzte sich wohl letztlich zusammen aus seinem tiefen, sich stets weiterentwickelnden Glauben an einen liebevollen und gerechten Gott, seinem besonderen Charakter, seinem gespaltenen Verhältnis zu seiner eigenen Geschichte, dem, was er an Religion nicht gutheißen konnte, und der Überspanntheit, die aus all dem zwangsläufig entstehen musste. Dass er in all dem diese Essenz des überkonfessionellen Glaubens festhielt und fulminant an die Welt weiterreichte, macht das Ganze in meinen Augen nicht nur »entschuldbar«, sondern großartig. Was Karl May wohl zeitlebens als Anker blieb, war die tiefe Spiritualität eines mit der Realität hadernden Fantasiebegabten. Für mich ist eine frühe autobiografische Äußerung des Künstlers, die Rainer Buck in diesem Buch zitiert, wie eine Zusammenfassung seines Menschenbildes und der Schlüssel zu seinem eigentlichen Geheimnis: Eigentlich war in dieser meiner frühen Knabenzeit jedes lebendige Wesen nur Seele, nichts als Seele, sagt May da rückblickend über sich selbst. Wahrscheinlich konnte er eben deshalb generationsübergreifend so viele Seelen berühren. Weil er für die Menschen schrieb, die wissen oder spüren, dass sie eine haben.
Ich möchte mir zum Schluss noch diese eine Bemerkung erlauben: Sie haben es vielleicht gemerkt, es war mir wirklich eine Freude und Ehre, dieses Vorwort schreiben zu dürfen, und außerdem gemeinsam mit meinen Freunden Henry Sperling und Karsten Deutschmann vom Gentle Art Studio in Hamburg das Karl-May-Hörspiel »Old Cursing Dry« zu produzieren. Mich hier mit dem Leben Karl Mays zu beschäftigen und die vielen aufregenden Geschichten darin mit der angenehmen Distanz des Beobachters zu lesen, ist für mich tatsächlich wie ein hübsches Midlife-Geschenk. Mays Werke haben überall Spuren hinterlassen, selbstverständlich auch in mir. Der Geist seiner Bücher ist mir immer wieder begegnet – auf Tournee, beim Schreiben, in meiner Familie, in der Freundschaft und der tiefen Liebe zu anderen Menschen. Das Bücherregal mit den grünen Buchrücken, von dem ich anfangs schrieb, ist natürlich auch das meines Vaters, in meinem Elternhaus. Und meine Mutter erzählte mir erst kürzlich – als ich ihr berichtete, dass ich an diesem Projekt mitarbeite –, dass mein Großvater sich in den barbarischen Wirren und seelischen Entgleisungen des Zweiten Weltkrieges stets an der Freundschaft von Winnetou und Old Shatterhand orientiert hatte. Er hatte ihr später erzählt, dass diese Gedanken, das Festhalten an den Werten der Brüderlichkeit und Menschenwürde, ihn und seine Kameraden davor bewahrt hatten, den schmalen Rest ihrer eigenen Würde in den ansonsten unmenschlichen Kriegshandlungen einzubüßen. Wie ich eingangs schon schrieb: Für manchen mag das alles hier spontan zu gefühlsduselig, zu nostalgisch oder viel zu weit hergeholt klingen. Aber ich bin sicher, dass es das alles nicht ist. Es ist sehr leicht, der Verlockung nachzugeben, die Art von Liebe zu trivialisieren, die sich durch die Geschichten von May zieht wie ein roter, erhabener Faden. Ebenso leicht ist es ja, den tiefen und ernstgemeinten Glauben vieler Menschen an einen liebenden, barmherzigen Gott ins Exil der überspannten Fantasie zu verbannen und damit der vermeintlichen Lächerlichkeit preiszugeben. Aber beides hat in Mays Werk, und folgerichtig auch hier in diesem Buch von Rainer Buck, seinen Platz. Denn beides ist die Quelle