Das Wunder vom Little Bighorn. Liselotte Welskopf-Henrich

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Das Wunder vom Little Bighorn - Liselotte Welskopf-Henrich

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und um einige Passagen aus der Einleitung Liselotte Welskopf-Henrichs zu ihrer Übertragung der Erzählung John Okute Sicas »Der Mann mit dem Namen Mato-wa-wo-yuspa, der Bär der zupackt« (im vorliegenden Buch »Der Mann, den sie Seizing Bear nannten«), ergänzt, die sich in ihrem Nachlaß befindet.

      Einleitung

      Der Stamm, der sich nicht ergab

      Im Jahre 1874 hatte eine Militärexpedition unter General Custer in den Black Hills Gold gefunden. Die Black Hills waren historisches Jagdgebiet der Sioux und der als heilig angesehene Mittelpunkt ihrer Welt. Der Vertrag von Fort Laramie aus dem Jahre 1868 hatte ihnen die Black Hills zur uneingeschränkten und exklusiven Nutzung und Besiedlung zugeschrieben. Nun jedoch strömten zahllose Goldsucher in das Gebirge, und die Regierung versuchte mit allen Mitteln, die Lakota zum Verkauf des Gebietes zu bewegen. Im Winter 1875 beschloß die US-Regierung, die Black Hills mit Gewalt in ihren Besitz zu bringen. Sie erließ den Befehl, daß sämtliche Sioux sich unverzüglich in die bestehenden Reservationen zu begeben hätten. Dies führte zum Aufstand. Tausende Reservationsindianer verließen im Frühjahr 1876 heimlich die Reservationen und schlossen sich den freilebenden Sioux des Westens an. Lieber wollten sie im Kampfe sterben, als den Raub ihres heiligen Stammeslandes zu dulden.

      General Custer wurde ausgesandt, um die Aufständischen zu zwingen, sich zu ergeben. Am 25. Juni fand die Schlacht am Little Bighorn River statt. Custers Kavallerieregiment wurde geschlagen, er selbst getötet. Dies war der letzte große Sieg der Lakota und ihrer Verbündeten über die US-Army. Nach dieser Schlacht zerbrach die Einheit der Sioux. Allzu stark waren ihre Gegner, und letztendlich blieb nur die Wahl zwischen Flucht und Unterwerfung. Einige Häuptlinge entschlossen sich, nach Kanada zu gehen. Im Winter 1876 befanden sich in Wood Mountain, Saskatchewan, bereits 2 900 Lakota, davon sehr viele Frauen und Kinder, die auf diese Weise in Sicherheit gebracht worden waren.2 Anfang 1877 trafen sich die Häuptlinge Sitting Bull und Crazy Horse und berieten darüber, ob sie sich ergeben oder nach Kanada fliehen sollten. Crazy Horse ergab sich mit seiner Stammesgruppe am 6. Mai 1877. Etwa zur gleichen Zeit führte Sitting Bull seine Húnkpapa über die kanadische Grenze nach Wood Mountain. Nachdem Crazy Horse im September im Fort Robinson ermordet worden war, flohen weitere Lakota nach Kanada. Es hieß, daß Crazy Horse im Sterben gesagt habe: »Ich wollte schon immer ins ›Land der Großmutter‹3 gehen. In wenigen Augenblicken werde ich tot sein, und dann werde ich mich dorthin begeben. Ich will, daß ihr alle mir folgt.« Unter den Häuptlingen, die 1877 nach Kanada gingen, war auch der Minneconjou Black Moon, der Sitting Bull bereits bei seiner Wahl zum obersten Häuptling der Lakota im Jahre 1869 unterstützt hatte und der mit seiner kleinen Stammesgruppe an der Schlacht am Little Bighorn beteiligt gewesen war.

      Im Frühjahr 1878 lebten 5 000 Sioux aus allen sieben Lakotastämmen – Húnkpapa, Oglála, Sičángu (Brulé), Mni­kchówožu (Minneconjou), Itázipčo (Sans Arc), Sihásapa (Blackfeet) und Oóhenunpa (Two Kettles) – in der Gegend um Wood Mountain, dem Standort einer Garnison der berittenen Polizei des Nordwestens, und Willow Bunch, einer nahegelegenen Mestizensiedlung. Sie versuchten, ihr traditionelles, auf der Büffeljagd beruhendes Leben fortzusetzen. Doch immer weniger Büffel kamen, und um 1880 blieben sie vollkommen aus. Es dauerte nicht lange und der übrige Wildbestand in der Region brach ebenfalls zusammen. Unter solchen Umständen Tausende Menschen zu ernähren, erwies sich als nahezu unmöglich. Eine Hungersnot brach aus. Bereits 1878 kehrten die ersten Sioux wieder zurück in die Reservationen in den USA.

      Häuptling Tatánka Íyotake, Sitting Bull. Fotografie aus dem Jahre 1885.

      Einige Frauen der Lakota heirateten weiße Männer, um das Überleben ihrer Familien in dieser Zeit der Not zu sichern. Oft hatten solche Ehen keinen Bestand. Eine derartige Begebenheit wird in der Erzählung »Ité-ská-wí« geschildert.

      Die kanadische Regierung duldete die Indianer als Flüchtlinge, aber sie verweigerte ihnen jegliche weitere Unterstützung und teilte ihnen auch keine Gebiete als Reservationen zu. Sie wollte, daß die Sioux in die USA zurückkehrten, denn zum einen setzte sie die US-Regierung unter Druck und zum anderen waren die Mittel in dem noch jungen Staat beschränkt. Einzelne Kanadier, wie der Händler Jean Louis Légaré und der Offizier der berittenen Polizei James Morrow Walsh versuchten, soweit es in ihren Kräften stand, die Sioux zu unterstützen, doch die Lebensumstände im Stammeslager verschlechterten sich unaufhaltsam. So beschlossen ab Anfang 1881 immer mehr Häuptlinge, sich den Vereinigten Staaten zu ergeben.

      Sitting Bull suchte verzweifelt nach Möglichkeiten, mit seiner Stammesgruppe, die nur noch aus wenigen Hundert bestand, in Kanada bleiben zu können, aber er scheiterte. Begleitet von Jean Louis Légaré begab sich der Häuptling mit seinen Leuten nach Fort Randall und ergab sich dort am 11. Juli 1881. Daraufhin lebte er mit seinen Húnkpapa in der Standing-Rock-Reservation, wo er am 15. Dezember 1890 ermordet wurde. Zwei Wochen später fand das Massaker von Wounded Knee statt, und der Widerstandsgeist der Sioux schien für alle Zeiten gebrochen. Eine Lebensweise, eine große Kultur war untergegangen, die gemäß der Überlieferung der Lakota tausend Jahre zuvor durch die Weiße Büffelkalbfrau, Ptésan-win, begründet worden war.

      Doch eine kleine Gruppe von etwa 250 Lakota war in Wood Mountain geblieben. Sie hatten sich dafür entschieden, weiter auf traditionelle Weise zu leben, so weit dies möglich war. Während der Wintermonate arbeiteten sie oftmals für weiße Farmer, und während der warmen Jahreszeit zogen sie in kleinen Gruppen auf die Jagd. Diese Zeit wird in der Erzählung »Hánta« widergespiegelt.

      Von links nach rechts: Tashúnke Núpawin und Okute Sica, die Eltern des Autors; Núpa Kikté und Ptesán-win, Tashúnke Núpawins Schwester.

      Zu den in Kanada Verbliebenen gehörte auch der Minneconjou-Häuptling Black Moon, welcher auch den Namen Loves War trug. Seine Enkeltochter Tashúnke Núpawin, Owns Two Horses, die mit »bürgerlichem« Namen Emma Loves War hieß, hatte zunächst einen Weißen namens Archie LeCaine geheiratet. Sie weigerte sich allerdings, ihm zu folgen, als dieser in eine andere Region Kanadas zog. 1889 heiratete sie Okute Sica.4 Im August 1890 wurde ihr erster Sohn John in der Gegend von Willow Bunch geboren. Ins Geburtenregister wurde er unter dem amtlichen Zunamen seiner Mutter, LeCaine, eingetragen. Später wählte er den Namen seines Vaters als Zunamen, nannte sich jedoch häufig nur John Okute. Sein indianischer Name lautete Woonka-pi-sni.5

      Während der ersten neun Jahre seines Lebens lernte John Okute Sica, Woonka-pi-sni, die traditionelle Lebensweise der Lakota kennen und lieben. Seine Eltern und Verwandten lehrten ihn alles, was seit Jahrhunderten den Kindern ihres Volkes an Wissen vermittelt wurde, einschließlich der religiösen Tänze und Zeremonien und magischer Praktiken. Bereits im Alter von sechs Jahren entwickelte er eine ausgeprägte Neugierde für Geschichte und Geschichten, und so liebte er es über alles, den Alten seines Stammes zu lauschen. Dies trug ihm den Spitznamen Alter Mann, Wičá-čala, ein, was als Ehrenname zu verstehen ist, da die Lakota alten Menschen größte Hochachtung entgegenzubringen pflegen.

      Sieben Jahre lang, von 1899 bis 1906, besuchte John Okute Sica die Regina Industrial School. Dort erlernte er die englische Sprache und wurde in der Landwirtschaft und im Zimmer­manns­handwerk ausgebildet. 1907 zog er mit seinen Eltern und Geschwistern nach Wood Mountain.

      Im Jahre 1910 unternahm sein Vater mit ihm eine denkwürdige Reise zu Pferd. Sie führte sie bis zum Frenchman River, und Okute Sica zeigte seinem Sohn über 30 Plätze, die während der fünf Jahre, die Sitting Bull mit seinem Stamm in Kanada verbracht hatte, von Bedeutung gewesen waren: die Winterlager des Stammes, Sonnentanzplätze, Abbaustätten für roten Ocker, Fleischdepots, Orte der Visionssuche, heilige Objekte und Begräbnisstätten.

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