Unterm Fallbeil. Horst Bosetzky

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Unterm Fallbeil - Horst Bosetzky

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zu kämpfen. Das war etwas, worunter Kappe furchtbar zu leiden hatte, aber er sah keine Möglichkeit mehr, seinen Jüngsten von seinem Vorhaben abzubringen.

      Hertha Börnicke, die Gedichte schrieb und mehrere Romane veröffentlicht hatte, war das Auftreten ihres Vaters mehr als peinlich, und um die Situation etwas zu entschärfen, fragte sie in die Runde, von wem denn der Satz «Nun, Volk, steh auf, und Sturm, brich los!» eigentlich sei.

      «Das hat mit den Napoleonischen Kriegen zu tun», antwortete Hermann Kappe, der ein Faible für alles Preußische hatte.

      «Richtig!», rief Hertha Börnicke. «Theodor Körner, 1813. Aus dem patriotischen Gedicht Männer und Buben.»

      «Kriege ich nun eine Eins?», fragte Hermann Kappe.

      «Nein, da hättest du auch den Dichter nennen müssen. Aber eine glatte Zwei ist es.»

      Man klatschte Beifall, und gerade wollte sich die Stimmung etwas aufhellen, da begann Klara Kappe zu weinen. «Ihr lacht hier, und mein Hartmut, der …»

      Hermann Kappe nahm seine Frau in den Arm. Sie wussten, dass ihr Ältester in sowjetische Kriegsgefangenschaft geraten war, und hatten seit einem Vierteljahr nichts mehr von ihm gehört. Die Frage war, ob er in einem sibirischen Lager dahinvegetierte oder längst in fremder Erde ruhte.

      «Auch an unseren Martin sollten wir denken», mahnte Bertha Kappe. Er war der Sohn von Hermann Kappes jüngstem Bruder Albert, der den Fischereibetrieb in Wendisch Rietz übernommen hatte und nun bei den Fallschirmjägern diente. «Die letzte Nachricht von ihm habe ich aus Italien erhalten, vor der Schlacht um den Monte Cassino.»

      Bilder des Grauens stiegen in allen auf, die im Kino gewesen waren und die Bilder in der Wochenschau gesehen hatten.

      Hermann Kappes Schwägerin Frieda hatte sich ins Religiöse geflüchtet und zitierte aus dem 11. Psalm: « Der Herr prüft den Ge rechten; seine Seele hasst den Gottlosen und die gerne freveln. Er wird regnen lassen über die Gottlosen Blitze, Feuer und Schwefel …»

      Oskar Kappe, ihr Mann, fürchtete, dass das von den Nazis am Tisch falsch ausgelegt werden könnte, und versicherte allen, dass sie damit die Luftangriffe auf England meinte.

      In diesem Augenblick wurde Sturm geklingelt. Hermann Kappe fuhr zusammen, denn seit langem fürchtete er, die Gestapo würde kommen und seinen Freund Theodor Trampe mitnehmen. Doch zum Glück war es nur Gustav Galgenberg, sein Kollege über Jahrzehnte hinweg, der jedoch mit dem 31. Dezember 1943 in den Ruhestand abgewandert war.

      Galgenberg gratulierte Hermann Kappe herzlich. «Freu dir, dette uff de Welt bist und nich runtafällst, det heißt, imma noch am Leben bist. Wann ham wa uns kennjelernt? Noch zu Kaisers Zeiten: 1910. Ach ja, damals ging’s uns gut, heute geht’s uns besser, es wäre aber besser, wenn es uns wieder gut gehen würde.»

      «Alles aufstellen zum Photographieren!», rief Otto Kappe, der Galgenberg die Interpretation dieses Spruchs ersparen wollte. Er hatte sich bei den Kriminaltechnikern am Alexanderplatz eine Kamera und genügend Magnesiumpulver fürs Blitzlicht beschafft.

      «Kein Blitzlicht!», schrie Margarete Kappe. «Da denkt Marlies immer, eine Bombe schlägt bei uns ein.»

      «Freude, schöner Götterfunke …», murmelte Gustav Galgenberg.

      MIT FORTGANG DES KRIEGES geriet die Berliner Kriminalpolizei in eine tiefe Krise, da es einerseits immer weniger Beamte gab, andererseits aber immer mehr Aufgaben zu bewältigen waren. So nahmen seit Beginn des Luftkriegs die Eigentumsdelikte spürbar zu, vor allem aber wurden Kriminalbeamte zur Gestapo und in die besetzten Länder abkommandiert, um dort in den Einsatzkommandos der Sicherheitspolizei und der Geheimen Feldpolizei der Wehrmacht Deserteure zu verfolgen, Partisanen zu jagen und beim Ausrauben, der Deportation und der Ermordung jüdischer Menschen mitzuhelfen.

      Hermann Kappe konnte sich glücklich schätzen, für diese Einsätze zu alt zu sein. Außerdem war er wegen seiner Erfahrung an der Heimatfront unentbehrlich. Jeder Mord, der nicht aufgeklärt werden konnte, schädigte das Ansehen des NS-Staates – und es gab aufgrund der Verhältnisse, die immer chaotischer wurden, eine solch hohe Zahl unaufgeklärter Morde, dass Goebbels und Himmler, so jedenfalls Kappes Vermutung, auf die Idee gekommen waren, dem leicht debilen Bruno Lüdke, der in Köpenick Wäsche ausgefahren hatte, über achtzig Morde anzuhängen. Kappes krankhaft ehrgeiziger Kollege Heinz Franz hatte das Ganze ausgebrütet. Als aber die Nazi-Oberen gemerkt hatten, dass Lüdke unmöglich der Täter sein konnte und sie Franz auf den Leim gegangen waren, hatten sie beide nach Wien abgeschoben.

      Für Kappe war die Welt ein einziges Irrenhaus, und gab es wirklich einen Gott, so musste der ein Sadist oder aber ein Geisteskranker sein. Bei dem Gedanken erschrak er, denn so viel Religionsunterricht hatte er in Wendisch Rietz gehabt, dass er nun die Rache des Herrn befürchten musste. Du schiltst die Heiden und bringst die Gottlosen um; ihren Namen vertilgst du immer und ewiglich. Schon die nächsten Bomben konnten die Häuser der Großen Frankfurter Straße in Schutt und Asche legen …

      Weil die Straßenbahn nach Luftangriffen öfter ausfiel und Kappe Bewegung guttat, hatte er sich angewöhnt, zu Fuß zum Polizeipräsidium zu laufen. Es waren genau 1,3 Kilometer, wie er anhand des Stadtplans errechnet hatte. Außerdem sparte er dadurch jeden Tag ein paar Pfennige, was ihm ein dickes Lob seiner Gattin eingetragen hatte. Für die Große Frankfurter Straße war mit dem Bau der U-Bahn-Linie E nach Friedrichsfelde eine Schneise durch die Häuserfronten geschlagen worden, und sie lief jetzt direkt auf den Alexanderplatz zu, so dass er ein paar hundert Meter Fußweg sparte. Bei seiner morgendlichen Wanderung konnte er genau verfolgen, wie es den alliierten Bomberverbänden von Tag zu Tag und Nacht zu Nacht mehr gelang, Berlin in eine Trümmerwüste zu verwandeln. «Wie soll das bloß mal enden?», hatte seine Mutter gefragt, bevor sie sich selbst nach Wendisch Rietz evakuiert hatte. Ja, wie? Die Fronten rückten immer näher an die Reichsgrenzen heran, und vielleicht hatten die Alliierten in einem Jahr schon ganz Deutschland erobert und Soldaten der Roten Armee das Polizeipräsidium besetzt. Oder hatte Hitler doch noch eine Wunderwaffe in der Hinterhand? Sofort hatte Kappe Zarah Leanders Stimme im Ohr: Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh’n, und dann werden tausend Märchen wahr. Aber die Vorstellung, dass die Nazis den Krieg gewannen und ganz Europa unterjochten, war auch nicht gerade berauschend.

      Es war noch niemand im Büro, und so widmete sich Kappe erst einmal der Zeitungslektüre. Die Überschriften auf der Titelseite waren schnell überflogen: Churchills Schock über die deutschen Luftangriffe – Bauern sichern das Werk der Soldaten – Die Schlacht um das Becken von Cassino – Heftige Durchbruchsversuche der Sowjets bei Witebsk erneut vereitelt.

      Er blätterte weiter zum Berliner Beobachter und zum Sportbeobachter und las: Wie Kinder zur Sauberkeit erzogen werden. Das schnitt er aus, um es seiner Tochter zu schenken. Wem die Bomben das Dach abgedeckt hatten, der sollte den Schnee vom Dachboden fegen, damit der, schmolz er, die darunterliegenden Räume nicht unter Wasser setzte. Im Reichsprogramm gab es von 19.15 Uhr bis 19.30 Uhr Frontberichte. Da war einzuschalten. Im Deutschlandsender wiederholten sie um 21 Uhr ein Konzert der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Wilhelm Furtwängler. Da würde Klara wieder vor dem Radioapparat sitzen und verzückt zuhören, weil sie sich damit den höheren Ständen zurechnen konnte. Ihn hingegen nervte das Gefiedel. Beim Trabrennen in Mariendorf hatte Orankepage gewonnen, was Kappe aber ebenso wenig interessierte wie der 7:1-Sieg, den Berlin im Städtespiel gegen Posen errungen hatte. Seine Blicke blieben nur an den Zeichnungen hängen. Kohlenklau lobte Bruder Leichtfuß, weil der das, was er auf seiner Kohlenkarte an Brennmaterial bekam, nicht richtig einteilte und am Monatsende seine Möbel verheizte. Eine andere Zeichnung zeigte zwei Frauen, die beim Briefeschreiben saßen, die eine fröhlich und mit toller Frisur, die

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