Archäologie. 100 Seiten. Kurt Wallat
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Kurt Wallat
Archäologie. 100 Seiten
Reclam
Für mehr Informationen zur 100-Seiten-Reihe:
2020 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Covergestaltung nach einem Konzept von zero-media.net
Infografik: annodare GmbH, Agentur für Marketing
Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen
Made in Germany 2020
RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart
ISBN 978-3-15-961543-1
ISBN der Buchausgabe 978-3-15-020550-1
Ein echter Sensationsfund
Im Frühjahr des Jahres 1996 nahte die Woche meines größten mutmaßlichen Triumphes als Archäologe. Nach jahrelanger Vorbereitung hatte unser Institut eine Vereinbarung mit der tunesischen Antikenbehörde für ein Forschungsprojekt in Dougga treffen können – es liegt ca. 100 Kilometer südlich der Hauptstadt Tunis und wird gern als das Pompeji Nordafrikas bezeichnet. Wir erhielten die Erlaubnis, mehrere wichtige Gebäude aus der Zeit der Numider und Römer (300 v. bis 300 n. Chr.) zu untersuchen.
Die so genannten Karyatiden auf der Athener Akropolis zählen zu den berühmtesten archäologischen Objekten der Welt – wir werden ihnen in diesem Buch noch begegnen
Im Laufe der Forschungsarbeiten wurde uns gestattet, mitten im Hof des Concordiatempels eine Grabung durchzuführen – eine geradezu spektakuläre Perspektive. Die Stelle schien vielversprechend, denn der Platz lag direkt oberhalb einer Ansammlung von Mauerzügen vorrömischer Wohnhäuser. Wir vermuteten also in der Tiefe ähnliche Strukturen aus Stein, Fußböden mit Mosaiken, dazu Keramik, Knochen, Münzen. Neue Erkenntnisse zur nur wenig erforschten numidischen Architektur erwarteten uns. Geplant war eine Schnittgrabung von zwei Metern Breite und 16 Metern Länge. Ihre Position war sorgfältig mit einem Theodoliten eingemessen, danach das Gelände sorgfältig von Unkraut befreit worden. Die endgültige Tiefe ließ sich nicht bestimmen und sollte am felsigen Boden enden.
Man muss sich den Beginn eines solchen Vorgangs in etwa vorstellen wie den Stapellauf eines neuen Schiffes, Sektflasche inklusive. Die gesamte Gruppe stand in feierlichem Ernst um zwei tunesische Grabungsarbeiter und mich versammelt und wartete auf das Startzeichen. Dann endlich war es soweit, die Hacken und Schaufeln trugen das Erdreich im abgesteckten Bereich in Schichten von jeweils 20 Zentimetern ab; auf diese Weise arbeiteten wir uns von Nord nach Süd vor, kehrten zum Ausgangspunkt zurück und begannen mit der nächsten Lage. Das Erdreich wurde durch ein Sieb geschüttet, damit kein noch so kleiner Fund übersehen werden konnte. Es tauchten ein paar Scherben auf, ab und zu der Ring einer Getränkedose oder ein Fetzen Plastik. In 50 Zentimetern Tiefe endlich zeichnete sich scheinbar die obere Kante einer Mauer ab, mehrere Steine bildeten eine gerade Linie. Das Team schien also mit seiner Vermutung richtig gelegen zu haben, dass sich hier alte numidische Häuser verbargen!
Wir setzten unsere Arbeit fort, trugen weiteres Erdreich ab, mussten zu unserer Enttäuschung feststellen, dass der angebliche Mauerzug aus drei zufällig aneinandergereihten Steinen bestand, und – ich will es kurz machen – fanden bis zum gewachsenen Erdreich … nichts. Absolut nichts.
Archäologie kann fies sein. Aber auch unglaublich faszinierend – auf den folgenden Seiten werden Sie vielen Facetten begegnen: Lassen Sie sich überraschen!
Archäologie – was genau ist das?
Die Öffentlichkeit hat vermutlich ein typisches Bild vor Augen: Menschen kauern auf dem Boden und legen mit Metallkellen oder einem Pinsel Dinge frei, die noch teilweise im Erdreich stecken – dies mit einer endlosen Geduld und unerschütterlicher Akribie. Sie kennt die spektakulären Berichte über Funde, die in unregelmäßigen Abständen durch die Medien geistern und zuweilen einen regelrechten Hype auslösen: Funde von Opfern des Vulkanausbruchs in Pompeji – über 1900 Jahre alt. Freilegung eines Tempels in Ägypten – ca. 3500 Jahre alt. Saurierknochen – Millionen Jahre alt. All diese Dinge treten bei »Ausgrabungen« zutage, sind jedoch fachlich weitestgehend unterschiedlichen Bereichen der Wissenschaft zuzuordnen. Und zwischen den Nachbardisziplinen existieren teils sehr große, teils gar keine Überschneidungen.
Im Wort »Archäologie« verbergen sich die altgriechischen Begriffe »ἀρχαῖος« (archaios, übersetzt ›alt‹) und »λόγος« (lógos, übersetzt ›Wort‹ oder ›Lehre‹) – sinngemäß ist sie also »die Lehre / das Wissen vom Vergangenen«.
Ein »Klassischer Archäologe« versteht sich als Wissenschaftler, der vorwiegend die Kulturen des Mittelmeerraums studiert, mit einer klaren Präferenz für Griechenland und Italien. Grabungen in diesen geographischen Breiten, die Funde von ca. 1200 v. Chr. bis ca. 350 n. Chr. erwarten lassen, sind seine Aufgabe. Die Interaktion der alten Griechen und des römischen Imperiums mit ihren Nachbarvölkern führt zu weiteren Teilbereichen, etwa in den ehemaligen Provinzen Germaniens – hier ist dann der Provinzialrömische Archäologe gefragt. Sollte, was nicht sehr wahrscheinlich ist, die Spitze eines Obelisken zum Vorschein kommen, müsste man einen Ägyptologen zurate ziehen. Würde zufällig ein Faustkeil gefunden, wäre ab sofort der ur- und frühgeschichtliche Kollege zuständig. Und falls man so weit in die Tiefe vorstoßen sollte, dass Schieferplatten mit Resten eines gefiederten Wesens oder versteinerte Knochen von veritabler Größe auftauchen, wäre der Paläontologe an der Reihe.
Dann gibt es da noch den Mittelalter- und den Neuzeitarchäologen, denn eine wichtige Aufgabe ist auch die Dokumentation jüngerer Gebäude oder Orte. So wird nicht selten eine stillgelegte Industrieanlage aufgrund ihrer Einzigartigkeit für einen bestimmten Produktionsprozess mit Mitteln der Archäologie akribisch dokumentiert und rekonstruiert, um dieses Wissen für die nachfolgenden Generationen zu erhalten. Unter Umständen können noch lebende Zeitzeugen wertvolle Erkenntnisse zur Erforschung beitragen. Als Beispiel seien hier Industrieanlagen zur Stahlproduktion im Saarland oder im Ruhrgebiet genannt. Solche Untersuchungen gehen weit über die bloße Katalogisierung technischer Details hinaus, vielmehr nimmt die so genannte »Industriearchäologie« auch das soziale Umfeld ins Visier, das sich etwa an Siedlungen normierter Häuser und an deren Wandel im Laufe der Generationen ablesen lässt.
Ein oft sehr persönliches Ziel dagegen verfolgen Suchgrabungen an Orten kriegerischer Handlungen in der Neuzeit, bei denen archäologische Methoden zur Anwendung kommen (Schlachtfeldarchäologie). Hier ist das Ziel auch die Identifikation von Opfern, um noch lebenden Nachkommen eine verlässliche Information über deren Schicksal übermitteln zu können.
Und Disziplinen gibt es noch viele weitere – einigen davon werden wir noch begegnen. Es würde den Rahmen dieses Buches aber sprengen, wollte man auch noch auf die Kulturen Vorderasiens eingehen, etwa Mesopotamien. Oder auf die zahllosen Kulturen