Das Flüstern Gottes. Freddy Derwahl
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Auch in seiner neuen Funktion als Archimandrit vertraut Gabriel seiner spirituellen Erfahrung sowie dem illusionslosen Zeugnis der Väter. Die „Gedanken“ nennt er „Einfallschneise und Kampffeld des Dämonischen, des großen Widersachers und seiner Einflüsterungen“. Er wundert sich über den Aufwand, den die Medien um Satanismus, Okkultismus oder Besessenheit treiben, die Schriften der alten Väter seien konkreter und nüchterner: Eigenliebe bezeichnen sie als „Alleshasserin“, deren Angriffe lehren, dass „dahinter jemand die Drähte zieht“. So hat er gelernt, dass auch im Mönchtum niemand sicher ist, Antonios der Große mahnt, mit Versuchung zu rechnen „bis zum letzten Atemzug“. Gabriel kennt schreckliche Lebensläufe von Mitbrüdern, die in den Gossen der Städte endeten. „Wenn man allein lebt“, sagt er, „werden diese Dinge klarer“. Das ist der Sinn des Lebens der Einsiedler, dass man das Beherrschen lernt „und mit Gottes Hilfe, soweit das in diesem Leben möglich ist, befreit wird“. Was ich von ihm gelernt habe? Beten. Der Ort Gottes ist der Ort des Gebetes, er steht allen offen. Er ist der Zustand innerer Stille, der Herzensstille: Gott alles in allem.
Auf einem 2000 Meter hohen Berg in Nordgriechenland liegt das Ende der Welt. Mehr als tausendjährig, kaum erreichbar. Hier ist alles anders: die Zeitrechnung, die Nachtwachen, das Frauenverbot, das Fasten und das Schweigen der Mönche und Einsiedler. Sie sind so gerade noch in der Welt, jedoch nicht von der Welt. Für manche ist es sogar schon der Vorgarten des Paradieses. Von 1975 bis zur Jahrtausendwende habe ich den Athos fünf Mal besucht. Tagelange Märsche von den Großklöstern Dionysiou und Große Lawra bis zur stürmischen Kapregion der Eremiten. Lauter Abenteuer.
5. Athos, der Heilige Berg
Seit meiner Freundschaft mit Gabriel hat mich mein Interesse für die Ostkirche nicht mehr verlassen. Ich wollte sogar übertreten, doch der orthodoxe Aachener Bischof Ephmenios lehnte es freundschaftlich ab. Statt Taufwasser schenkte er mir eine Flasche Ouzo. Die Anziehung des östlichen Christentums blieb. Dann entdeckte ich die Reiseerzählung von Erhard Kästner „Die Stundentrommel vom Heiligen Berg Athos“: unwiderstehlich. Am 21. April 1970 landete ich mit zwei Freunden in Thessaloniki.
Punkt zehn legt das Fährschiff „Axion Estin“ mit einem klagenden Hupsignal im kleinen Fischerdorf Ouranoupolis ab. Sein Kurs: Karyes, der Hafen des Heiligen Berges Athos, dem Mönchs- und Einsiedlerreservat am östlichen Finger der griechischen Halbinsel Chalkidiki. Schöner denn je krümmt sich der grüne Bergrücken die Steilwände empor. Es ist Mitte April, überall verschwenderisches Blühen. Bald treibt Seewind durch die Eichenwälder der russischen Klosterruine von Chromitsa und gibt den Blick auf den Gipfel preis. Auf knapp 2000 Meter funkeln die letzten Schneefelder. „Aghion Oros“, die mythische Höhe, das Heiligtum der Orthodoxie.
Die Stunde der Ankunft hat magische Kraft. Seit zwei Jahren habe ich sie herbeigefiebert. Der Briefwechsel zwischen Martin Heidegger und Erhard Kästner über den Athos hat mich fasziniert. 1963, zum 1000-jährigen Bestehen, schrieb Irenäus Doens ein Mönch aus Chevetogne eine zweibändige Bibliografie, einen besseren Berater konnte ich nicht haben. Seine Empfehlungen für das komplizierte Einreiseverfahren waren wie eine kostenlose Eintrittskarte. Einmal durch die Kontrollen der Passbehörde begann ein Abenteuer, eine Reise zurück ins Mittelalter.
Das Hochfest des Athos ist am 1. August der Verklärung Jesu geweiht. Der Evangelist Matthäus berichtet, dass der Herr den drei Jüngern Petrus, Jakobus und Johannes in einem blendend weißen Kleid erschien, sein Gesicht leuchtete wie die Sonne. Die mysteriöse Szene erschüttert die Mönche bis zum heutigen Tag. Bereits am Vortag des Festes steigen sie auf den Berg und warten die Nacht über auf das erste Schimmern des Morgenrotes am östlichen Himmel. Dann brechen Schreie aus, die Jüngsten klettern auf das Gipfelkreuz. In der aufsteigenden Sonne erscheint der Herr … Jetzt werfen auch sie sich mit dem Gesicht zu Boden, die Arme ausgestreckt in Kreuzesform küssen sie die Erde.
„Proskynensis“, so lautet der Name dieses aus dem alten Orient stammenden Rituals, das nicht mehr als Ehrerbietung den Königen und Mächtigen gilt, sondern als demütige Liebesbezeugung für den im Gebirge flüsternden Gott. Es ist eine einsame nächtliche Gebetsübung, die je nach sportlicher Form dreißig bis fünfzig Mal wiederholt wird.
Im nächsten Kloster, dem des heiligen Paulus, schrecken wir auf. Schwer schlagen die Körper auf den Boden der Zellen. Vor Mitternacht ertönt das Geklöppel des „Simandrons“, einem Holzbrett, auf dem ein Mönch unablässig in wechselnden Rhythmen hämmert und so über die Treppen und Balkongänge schreitet. Niemand entkommt dem Weckruf: Eine aufrüttelnde Ouvertüre der Vigilien, die bis zum Morgengrauen andauern.
„Die Nacht leuchtet wie der Tag“, so singen sie aus den Psalmen. Im Kloster Stavronikita ist die Kirche rund und klein. Das Holzgestühl von Jahrhunderten geschliffen, im Halbdunkel die wehmütig prüfenden Blicke der Heiligen auf den Ikonen, von Kerzenschein umzittert, die Bücher in altgriechischer Schrift auf dem Drehpult, die Fresken der Fürsprecher und Märtyrer an den hohen Wänden. In der Kuppel die allheilige „Panaghia“, die Jungfrau Maria, ringsum die Apostel, vorzugsweise jedoch der enthauptete Täufer Johannes nahezu surreal mit seinem Kopf in der rechten Hand. Alle umgeben von den Weissagungen der Propheten und den Tänzen schwebender Engelsscharen.
Die Gesänge haben mit dem gregorianischen Wohlklang des Nachtoffiziums unserer Zisterziensermönche nichts gemeinsam. Hier alterniert die Stille mit dem atonalen Gemisch von Schreien und dem Seufzen tiefer Stimmen. Es ist ein Sound aus der Einsamkeit, die sie sich vertraut gemacht haben. „Ich werde dich in die Wüste entführen“, singen sie aus dem Buch Hosea, „und dort zu deinem Herzen sprechen“. So wirbt der Verratene um seine begehrte treulose Frau mit Worten großen Verzeihens.
Im Wechsel einer Choreografie vergehen die Stunden. Vor den Ikonen und Altarnischen werden die Kerzen angezündet und wieder gelöscht, dann zieht der Zelebrant mit dem Weihrauchfass durch das enge Rund, alles mit dem dichten Nebel dämmernder Gottesnähe umhüllend. Sie werfen sich nieder und erheben sich mit Gesängen der Sehnsucht. Eine mysteriöse Hand führt Regie, ein Vater mit grauem Greisenbart, unablässig bekreuzigt und segnet er. Das macht den Zauber dieser Stunden aus: Im Uralten herrscht Naherwartung! Lesen sie aus den kaum verschlüsselten Ansagen des Propheten Isaias, tönt es weder nach Erinnerung noch Verehrung, sondern nach unmittelbarer Mobilmachung. Gott ist der große Gegenwärtige. Es waltet die Kunst der Stille, um ihn besser zu hören. Irgendwie herrscht Eile, denn es könnte sein – wer weiß schon den Tag und die Stunde? –, vielleicht kommt ihr „Christos, Christos, Christos“ noch in der zu Ende gehenden Nacht. Es gilt die schnelle Einsatzbereitschaft, das schlaflose Wachen.
Im ersten Morgenlicht folgt die Heilige Liturgie, die Eucharistiefeier, das zentrale mystische Ereignis. Es ist ein anderer Klang, die Sehnsucht erreicht den Höhepunkt. Die Gewänder wechseln, Weiß mit Blut überzogen, das sind apokalyptische Farben. In einer Prozession ziehen die Väter durch die Kirche, die Gefäße der Opferung zeigend. Bald tritt eine große Stille ein, sie dauert an, denn sie möchten Gott hören. Ich spüre, es ist keine kurze Pausenstille. Man wartet auf einen Schlussakkord, der zunächst nicht kommt. Dann und wann ein Lispeln der ganz Alten.
Als sich das eisenbeschlagene Portal öffnet, strömt das frühe Morgenlicht herein, es ist wie eine Entzauberung. Die Kerzen erlöschen, die heiligen Bücher werden zugeschlagen, wie Dunst entschwindet der Weihrauch nach draußen. Von den Rosenstöcken tröpfelt der Tau. Ich atme auf, selten war die Frühe so rein. Nicht genug davon, umgeben von Meeresstille nur noch Herrlichkeit.
Es ist sieben Uhr, die Väter ziehen in Zweierreihen in die gegenüberliegende „Trapeza“, den Speisesaal, wo mit allem,