Andershimmel. Blickle Peter

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Andershimmel - Blickle Peter

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»Trinkerheilstätte« hießen. Er kannte die Klinik. Sie war in einem ehemaligen Klostergebäude untergebracht. Er kannte den langen, vierstöckigen Backsteinbau. Rot leuchtete er über den See. Klinik Sankt Georg am See. »Du bist doch plemm plemm. Du gehörst ins Sankt Georg.« Das war auch so ein Spruch aus der Kindheit.

      »In die Klinik am See«, sagte Matthias.

      Schwester und Bruder. Bruder und Schwester. Johannes war sieben Minuten älter als sie. Mädchen und Junge. Brüderchen und Schwesterchen. Sie schwammen. Ihre Gesichter schwebten über dem Wasser. Spiegelten sich. Es war ein Spiel, bei dem beide lachten.

      Johannes und Miriam. Kuss und Kussi nannten sie einander. Johannes sagte: »Komm, wir wollen miteinander in die weite Welt gehen.« Sie sagte: »GOtt und unsere Herzen weinen zusammen. Ich gehe nicht mit.« Johannes sagte: »Wer aus mir trinkt, wird ein Tiger.« Sie sagte: »Zum Glück konntest du dich so lange beherrschen, bis du nur ein Reh geworden bist.«

      Vor dem Spiegel verglichen sie ihre Augen. »Genau gleich.« Sie verglichen, wer zuerst einen Zahn verlor. Sie verglichen, ohne Spiegel, welche Buchstaben sie gleich und welche sie anders schrieben, wer an Weihnachten das bessere Geschenk bekam, wer zuerst bruchrechnen und Fahrrad fahren konnte. Sie richteten sich ein in ihrem Vergleichen. Sie und er. Er und sie. Mit und ohne Spiegel. Er war ihr Zuhause. Sie war seins. Es gab nur sie.

      Die Blätter bewegten sich in der Einfahrt. Matthias sagte: »Sie braucht dich.« Matthias sagte, das habe er ihm nur mitteilen wollen. Was er jetzt tue, ob er bleibe oder komme, das sei, ganz klar, ihm, Johannes, selbst überlassen.

      Die Blätter. Gelb und Rot und Braun und Orange. Er hatte seinen Kalender in der kommenden Woche voll mit wichtigen Terminen. Er korrigierte sich. Er hatte den Kalender voll mit Unwichtigem, das er für wichtig halten musste, damit er sich für wichtig halten konnte. Und Brunhilde und Silky, Hündin und Kätzin, konnte Naomi versorgen. Sie hatte für die nächste Woche keine Reise in ihrem Kalender.

       2

      Er sah diesen Raum heute zum ersten Mal auf dem Flughafenplan. Room Number 99. Religious Reflection Room. Im dritten Stock des Flughafengebäudes war dieser Raum. Und weil er zwei Stunden bis zu seinem Anschlussflug hatte, fuhr Johannes mit dem Aufzug hinauf. Aus Neugier, sagte er sich. Aus Langeweile, sagte er sich. Religious Reflection Room.

      Als er die Tür öffnete, mussten sich seine Augen zuerst an das Dämmerlicht im Inneren gewöhnen. Überall sonst auf dem Flughafen gab es dieses schattenlose Neonlicht. In diesem Raum gab es ein paar gedimmte Leuchten, abgeschirmt und nur zur Decke hin offen. Vor ihm kniete eine Frau. Das sah er. Sonst war niemand da. Nur diese Frau in ihrem schwarzen Umhang mit schwarzer Kopfbedeckung, die ihm dem Rücken zuwandte und sich immer wieder auf den Knien nach vorn beugte. Er hatte die Tür geöffnet, ohne anzuklopfen. Jetzt stand er da und hielt die Türklinke in der Hand. Sie kniete, aufrecht. Dann beugte sie den Oberkörper nach vorn, die Gewänder gaben ein seufzendes Geräusch von sich. Die Frau ging auf die Hände, tief, so tief, bis die Stirn den Teppich berührte, auf dem sie kniete. Goldgelb und schwarz war der Teppich, mit runden Mustern. Das sah er. Er nahm immer mehr Farben wahr – das Karminrot der Stuhlpolster entlang der Wände. Das hellere Rot der Bücher, die auf manchen Stühlen lagen. Die Frau richtete sich auf. Sie atmete ein. Er hörte es. Sie atmete tief ein. Dann beugte sie sich wieder nach vorn und ließ die Stirn den Teppich berühren, genau an der Stelle, wo der Teppich einen goldenen Kreis hatte. Es war, als müsse ihre Stirn diesen Kreis berühren, damit alles seine Richtigkeit habe. Sie atmete. Blieb kniend ruhig aufrecht. Das Aufrichten und Sichvorbeugen, bis die Stirn den Kreis berührte, geschah in einem Rhythmus. Es war eine eigene Art des Atmens. Es war ein Körperatmen. Unter schwarzen Gewändern. Bei ihr. Und er atmete mit.

      Weil er hinter ihr stand, mussten sie nicht entscheiden, wie sie sich zueinander verhalten sollten. Sie brauchten einander nicht auszuweichen, denn sie sahen einander nicht in die Augen. Sie brauchten einander nicht zu grüßen. Trotzdem spürte Johannes, dass sie vor ihm dagewesen war. Sie hatte das Recht, den Raum für sich zu beanspruchen. Sollte er wieder hinausgehen? Er konnte sich nicht entscheiden. Er wollte nicht stören. Religiös war er nicht mehr. Aber der Raum zog ihn an. Die Ruhe. Die dezent beschirmten Lampen an den Wänden. Er. Sie. Wir. Es gab kein Wir. Auch wenn sie und er im selben Raum waren. Und doch nahm er ein Wir wahr.

      Er atmete, tief, und schaute ihr zu. Die Umrisse ihres Körpers unter dem Gewand. Die Frau war gedrungen, kräftig und jung. Die einfache Leichtigkeit, mit der sie Rücken, Hüften und Nacken bewegte. Er sah die Haut an den Händen, die nicht vom Gewand bedeckt war. Sie war jung. Aber sie war alt genug, um die Mutter von drei Kindern sein zu können. Alles war möglich. Nichts musste sein. Dass alles möglich war, nichts aber so sein musste, wie er es sich vorstellte, hatte etwas Befreiendes. Er schaute diesem Rhythmus, diesem Wechsel von Stille und Bewegung zu. Dieser Hingabe. Da war etwas Aufrichtiges in ihr. Sie hatte etwas gefunden. Und sie vertraute. Sie besaß das Vertrauen, dass ihr beim Beten in diesem Raum nichts geschehen würde. Sie hatte sich nicht umgewandt, als er die Tür öffnete. Sie beugte sich nach vorn, ließ die Arme vornüber gleiten und berührte mit der Stirn den Teppich. Das war ein Sich-klein-Machen, ein Akzeptieren, ein Atmen, ein Duft, eine Demut.

      Vielleicht störte er sie, indem er hinter ihr stand und atmete und zuschaute – und nichts tat. Doch er hatte, sagte er sich, dasselbe Recht, hier zu sein, wie sie. »Religious Reflection Room.« Ein Religious Reflection Room stand allen zur Verfügung. Allen Konfessionen. Da gab es kein Vorrecht. Es gab kein Besitzen. Alle hatten ein Recht, hier zu sein. Also auch er. Er trat einen Schritt nach vorn und schloss die Tür hinter sich.

       3

      Als Miriam und er noch im selben Zimmer schliefen, mussten sie, denn der Herr JEsus sah alles, ihre Sachen ordentlich auf den Stuhl legen. Außerdem sollten die Leute, falls der Herr JEsus sie in der Nacht zu sich in den Himmel heimholte, nicht sagen, sie wären unordentlich gewesen. Wenn es dunkel war, lauschte er hinüber. Atmete sie noch? Hatte der Herr JEsus sie schon zu sich geholt? War sie, wie die Eltern das sagten, heimgegangen?

      Holte ER einen im Schlaf, dann hieß es, man sei entschlafen. Eingegangen in den Himmel, wo ER zur Rechten GOttes, des ALlmächtigen, des SChöpfers des Himmels und der Erde saß. Dort hinauf nahm ER einen. Eigentlich nahm ER nur das Atmen mit. Alles andere blieb zurück. Die körperliche Hülle blieb im Bett liegen. Deshalb konnte Miriam da liegen und schon entschlafen sein. Sie atmete so leise. Und das Heben und Senken ihres Brustkorbes konnte er unter der Bettdecke unter der dunklen Dachschräge nicht erkennen.

      »Müde bin ich, Gehzuruh, mach die müden Äuglein zu.« Er stockte manchmal, denn zum Gehzuruh wollte er eigentlich nicht beten. Das war eine Sünde. Aber die Eltern beteten es vor. Also war es keine Sünde. Johannes und Miriam stellten sich Gehzuruh als einen Verwandten von Rübezahl vor: ein Riese mit Bart, der ihm lockig und verworren wie Moos bis auf die Erde hinunterreichte. »Müde bin ich, Gehzuruh.«

      Miriam sagte: »Gehen Alche.«

      »Was soll das heißen?«

      »Ich weiß nicht. Aber mir gefällt es.«

      Er sprach die Worte nach. »Gehen Alche.« Das klang weich. Das klang angenehm. Er sagte: »Arlorn.«

      Das sagten sie, wenn sie abends noch wach im Bett lagen und das Licht aus war: »Gehen Alche.« »Arlorn.« »Ja, Arlorn.« »Ja, Alche.«

      Arlorn war der Edelsteinschmuck, den Gehzuruh im Bart trug. Gehen Alche war das silberne Moos, das im Paradies von den Bäumen hing.

      Sie hob den Unterarm an die Nase und sagte: »Der Fleck in meiner Haut riecht komisch.« »Wie?« »Wie ein Regenwurm.« »Gut oder schlecht?«

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