Grobe Nähte. Johannes Schweikle

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Grobe Nähte - Johannes Schweikle

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gar nicht. Bis zu den Fränkischen Philharmonikern sind es fast 300 Kilometer. Sie haben eine Tuba im Orchester, aber für die Alpensinfonie von Strauss brauchen sie eine zweite. Anna-Lena hat gelästert, bis ich ihr erklärt habe, dass es nicht um Johann Strauss vom Donauwalzer geht, sondern um Richard. Dann hat sie gefragt, ob ich bescheuert bin, mir für 150 Euro diesen Stress anzutun. Ich hab gesagt, dass dieses Stück es wert ist.

      Jetzt sitz ich da und hab viel Zeit zu überlegen, wer recht hat. Ich war pünktlich, konnte mich vor der Generalprobe noch einspielen. Mein Platz ist hinten links, von da übersieht man das ganze Orchester. Wir sind tatsächlich 107 Musiker. Bei der Alpensinfonie hat Strauss geklotzt: zehn Celli, acht Kontrabässe, ein Kontrafagott, vier Posaunen. Sogar die Harfe ist doppelt besetzt. Vorn sitzen massenhaft die üblichen Streicher. Richard Strauss, das verwöhnte Münchner Kind aus einer reichen Bierbrauerfamilie, ist nicht auf der Brennsuppen dahergeschwommen. Aber der Aufwand lohnt sich. In dieser Sinfonie treibt er das Schwelgen der Romantik auf die Spitze. Man hört die Klangwolke der Holzbläser und sieht die Nebelschleier, wie sie morgens in der Dämmerung am Berg hängen. Dann lassen es die Posaunen neben mir knacken. Volles Rohr, bei der Bassposaune gibt es sowieso nur zwei Lautstärken: On-Off. Für uns Blechbläser spielt die Alpensinfonie in der Champions League. Deshalb will ich unbedingt hier sitzen. Dumm nur, dass bei der zweiten Tuba am Anfang in den Noten steht: Tacet. Fast eine halbe Stunde darf ich keinen Ton von mir geben. Sonnenaufgang, Wanderung neben dem Bache, Durch Dickicht und Gestrüpp auf Irrwegen – alles ohne mich. Es ist gut, dass in dieser sinfonischen Dichtung nur die einzelnen Abschnitte einen Titel haben. Sonst gibt es keinen Text, der ablenkt, man kann sich ganz in die Musik fallen lassen.

      In aller Ruhe kann ich mir die Umgebung anschauen. Der Saal sieht nach neunzehntem Jahrhundert aus. Die Orgel an der Stirnseite ist verkleidet, als ob sie ein griechischer Tempel wäre. Von der hohen Decke hängen Kronleuchter, unten sind die Sitze mit rotem Samt bezogen. Der erste Rang wird gestützt von Frauenfiguren, die ziemlich nackte Brüste schräg nach vorn quellen lassen. Mindestens C-Körbchen, Anna-Lena wäre eifersüchtig. Ich hätte ihr gern eine Freikarte organisiert. Aber sie hat gesagt, sie will keinen ganzen Samstag für die Alpensinfonie opfern. Ich bin mir allerdings sicher, dass sie auch Nein gesagt hätte, wenn es nur um das Konzert am Abend gegangen wäre. Mit HipHop kann ich sie begeistern, bei klassischer Musik rollt sie die Augen.

      Ein Orchester im Frack passt gut in diesen oberamtlichen Saal. Aber bei der Probe spielt jeder in Zivil, und das sieht schlimm aus. Mit Freizeitmode kann man mehr falsch machen als im Anzug. Die Leute über dreißig haben nicht verstanden, wie schwierig es ist, seinen Style zu finden. Kein Polohemd ist cool. Das erste Horn sitzt da in einem hellblau geringelten Teil und hat eine Glatze. Überhaupt leuchten viele Platten in diesem Orchester. Ich hab gezählt, bin auf 27 gekommen. Die Harfenistin trägt ein Babydoll, ist aber kein bisschen schwanger, sondern dünn wie eine Saite, da gibt’s nirgendwo was zu raffen. Bin gespannt, was sie heute Abend anzieht. Die zweite Geige steckt in einem T-Shirt mit rotzigem Aufdruck: No rules. Hat sie eine Tochter in der Pubertät, der sie damit imponieren will? Ruft sie im Orchester die Revolution aus? Ausgerechnet hier, im letzten Hort der strengen Hierarchie. Nicht nur der Dirigent gibt Anweisungen, denen alle folgen müssen. Auch dem Stimmführer muss der Streicher sich fügen. Er sagt Abstrich, und wehe, ein Geiger tanzt aus der Reihe und fährt bei diesem Ton mit dem Bogen nach oben.

      Jetzt spielen sie Teil 11, Auf dem Gletscher. Ich muss mich langsam konzentrieren. Lege die Lippen sacht ans Mundstück, blase lautlos hinein, um ein Gefühl für mein Instrument zu bekommen. Vorsichtshalber nochmals Wasser ausblasen, geräuschlos. Endlich: Auf dem Gipfel. Majestätisch, auf dem Höhepunkt der Überwältigungsästhetik, steige ich ein mit einem tiefen C. Muss diesen Ton drei Takte halten, im Forte. Hab deshalb wieder den Atemsack rausgeholt und geübt, dass mir nicht der Dampf ausgeht. Dann beginnt die elende Pausenzählerei. In Teil 14, er heißt Vision, endlich wieder was zu spielen, zehn Takte E. Wie tief dieser Ton ist, sieht schon der Laie in der Partitur: Der sprengt die normalen Noten, er hängt unter der vierten Hilfslinie. Und so klingt er auch. Langsam vibriert er vor sich hin. Du glaubst, jede Schwingung zu hören, jedes Hertz einzeln. Wenn du diesen Ton so lang halten musst, wird dir leicht schwarz vor Augen. Du kannst dich aber nicht einfach rausschleichen, nach sieben Takten oder so. Die Tuba legt das Fundament, lange Töne ohne Spektakel, selten Sechzehntel. Wenn diese Grundlage fehlt, hängen die anderen in der Luft. Mit dem weichen Sound meines dicken Instruments hab ich Anna-Lena gekriegt. Sie sagt Bär zu mir, Pu der Bär, und das ist nicht verkehrt. Ich kann laut und kräftig brummen, aber so, dass es nicht nach Bierzelt klingt. Die tiefen Töne stecken voller Energie, sie federn. Sind verlässlich, klingen gutmütig, haben trotzdem eine klare Kante am Anfang. Darin unterscheiden sich die Guten von den Polkanazis: Bei uns kommt kein dumpfer Brei aus dem Schallbecher. Bis hinunter zum Subkontra-B haben wir eine saubere Ansprache.

      Teil 18, die Stille vor dem Sturm, lässt der Dirigent zweimal wiederholen, dann ist er auch damit zufrieden. Um zwölf ist die Generalprobe zu Ende, jetzt muss ich irgendwie die Zeit rumbringen, das Konzert beginnt um acht. Am gepflasterten Platz in der Altstadt stoße ich auf einen Glutamat-Chinesen. Zum Glück finde ich ein Gasthaus, das reell aussieht. Bestelle ein Weizen und einen Schweinsbraten, als Bass brauchst du eine Grundlage. Eigentlich wollte ich am Nachmittag das barocke Schloss besichtigen, aber nach dem Essen fehlt mir die Energie. Im Golf klappe ich den Fahrersitz nach hinten, so vergeht die Zeit. Kurz nach sechs bin ich in der Künstlergarderobe. Mein Professor an der Musikhochschule hat mir eingeschärft, wie viel an diesem Auftritt hängt. Sein Text war so unnötig wie ein Kropf, ich will ja selbst. Wenn ich die Chance bekomme, im ganz großen Orchester die Alpensinfonie zu spielen, will ich mein Teil dazu beitragen, dass der Klangkörper ins Schweben kommt. Das funktioniert nicht, wenn ich mich hinter den anderen verstecke. Wer so wenige Töne hat wie die zweite Tuba, sollte keinen verkacken. Der Laie würde sich wundern, welches Risiko wir Blechbläser bei jedem Ton eingehen. Es reicht nicht, das erste und das dritte Ventil zu drücken und einfach reinzublasen. Du musst eine Vorstellung entwickeln, wie hoch oder tief der Ton sein soll, sonst stimmt die Lippenspannung nicht. Außerdem brauchst du nicht nur den Mund, sondern auch die Lungen und das Zwerchfell, sogar die Stimmbänder. Du kannst dich nicht irgendwie in den Ton hineinmogeln, der Zungenstoß muss sitzen. Ziemlich viele Körperteile und Organe sind beteiligt, wenn die Tuba klingen soll.

      Am Waschbecken klatsche ich mir kaltes Wasser ins Gesicht. Nehme einen Zahnstocher, damit vom Braten nichts ins Instrument kommt. Putze das Mundstück, öle das vierte Ventil, das hat vorher ein bisschen geklappert. Als ich den Frack aus dem Anzugsack hole, schlägt meine kaufmännische Vorstrafe durch. Manchmal kann ich das Rechnen nicht abstellen. Damals ging ich noch mit Jenny, als ich meine Ausbildung bei der Telekom gemacht hab. Stand im Telefonladen, hab Festnetzanschlüsse verkauft und gemerkt, wie mir die Zeit davonläuft, weil es für die Bewerbung an der Musikhochschule eine Altersgrenze gab. Die ganze Verwandtschaft hat mir abgeraten. Wenn du wenigstens Trompete gelernt hättest, hat meine Mutter gejammert. Aber Tuba? Die marschiert an Fronleichnam hinterher, man kann sie auch weglassen. Damit willst du Geld verdienen? Mein Vater, wie fast immer vernünftig: Bleib im Musikverein und bei der Telekom, dann bist du versorgt. Meine schwäbische Oma: Armut isch a Haderkatz. Ich war so krass hin und her gerissen, dass es wehgetan hat. Zum Glück hatte ich zitate.de abonniert, da gab’s jeden Morgen einen Spruch. Als ich die Entscheidung nicht länger hinausschieben konnte, kam ausgerechnet Gustav Heinemann. Der war mal Bundespräsident, hat nicht so rasant formuliert, aber mir hat er geholfen: Wer nichts verändern will, wird auch das verlieren, was er bewahren möchte.

      Im Wintersemester hab ich in München angefangen, an der Hochschule im alten Nazibunker. Dass ich mit meinem Instrument Frauen begeistern kann, war mir schnell klar. Bei einem Auftritt in der Muffathalle hab ich Anna-Lena kennengelernt. Sie sagte, dass ich und dieses Instrument zusammenpassen. Dass dieser Groove bei ihr etwas auslöst, ganz tief im Bauch. Sie studiert Germanistik und Theologie. Nach Weihnachten bin ich in ihre WG in der Hampelmannstraße gezogen.

      Die Kunst ist für mich bisher ein Zuschussgeschäft. Ich hoffe, das ändert sich noch. Als klar war, dass aus BrassXpress etwas wird, hab ich mir ein Sousaphon gekauft, obwohl die zweite

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