Lebendige Seelsorge 6/2019. Verlag Echter

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Lebendige Seelsorge 6/2019 - Verlag Echter

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kritische Kraft der Erzählung ist ein Merkmal aller wirklichen performances: Ihnen ist eine „essential contestedness“ (Marvin Carlson) zu eigen, d. h. eine Strittigkeit, die selbstverständliche Eindeutigkeiten infrage stellt und für andere Lebens-/Verkörperungsbedingungen eintritt. Ich möchte diese charakteristische Dynamik von Erzählungen/performances als „Inkarnativität“ bezeichnen. Erzählungen wie die eingangs geschilderten sind „inkarnativ“, weil sie eine Alterität einspielen, die selbst nicht ausgelotet werden kann, aber in dieser Bezugnahme bzw. Eröffnung eine Veränderung in herrschenden Lebens-/Sichtbarkeits-/Verkörperungsbedingungen fordern und zugleich im Akt des Erzählens diese andere Lebbarkeit performativ realisieren.

      EVANGELIUM ALS INKARNATIVE ERZÄHLUNG

      Das Evangelium Jesu ist eine inkarnative Erzählung in diesem Sinn. Ein Beispiel dafür sind die Geburtserzählungen des NT. Dort wird nicht nur über Inkarnation/Menschwerdung erzählt. Vielmehr haben die Erzählungen in performativer Hinsicht – in dem, was sie tun – eine inkarnative Qualität.

      Für heutige Leser*innen und Hörer*innen mag diese Dimension verdeckt oder fern sein, vielleicht weil die Geburtserzählungen zu sehr in Weihnachtsharmonie und Friedensutopie der stillen Nacht eingepackt sind. Aber für Menschen in den Kontexten, in denen sie zuerst erzählt wurden, müssen sie diese kritische und kreative Kraft entfaltet haben. Denn sie widersprechen herrschenden politischen Theologien vehement: Der Gott in Menschengestalt ist dem Befehl des göttlichen Kaisers – seinem Dogma – entgegengesetzt. Nicht in der Herrschaftsfigur des sol invictus auf dem römischen Thron, sondern in Menschengestalt abseits der imperialen Wege zeigt sich das Antlitz Gottes. Indem so die Herrschaftstheologie des Imperiums durch die Geburtserzählung infrage gestellt wird, wird ebenso die Selbstverständlichkeit bestritten, mit der Menschen ihre Körper dem Imperium unterwerfen sollten.

      Diese Ent-Unterwerfung spielt sich nicht nur in einer fernen Zukunft ab, sondern wird jetzt und hier im Akt des Erzählens selbst realisiert. Bedingungen des Erscheinens, der Sichtbarkeit, Sagbarkeit und Lebbarkeit, werden in Anspruch genommen, die bisher verworfen waren, jetzt aber in Form der Erzählung Gestalt gewinnen. Es handelt sich dabei nicht um eine große, epochale Erzählung, sondern um eine kleine, kritische Intervention, die doch zu großen Infragestellungen und Aufbrüchen führt.

      Erzählungen sind „inkarnativ“, weil sie eine Alterität einspielen, die selbst nicht ausgelotet werden kann, aber in dieser Eröffnung eine Veränderung fordern und diese andere Lebbarkeit performativ realisieren.

      In diesem Sinne sind die Evangelien verstörende, irritierende, empörende Beanspruchungen eines anderen Glaubens und anderer Lebensverhältnisse innerhalb von herrschenden Strukturen. Sie verlagern ihre anderen Perspektiven nicht irgendwohin (Utopien), sondern realisieren sie, indem sie erzählerisch-kritisch in die religionspolitischen Kontexte der jeweiligen Gegenwart intervenieren und erzählend-kreativ andere Verkörperungsbedingungen praktizieren und einfordern.

      Auch die Ostererzählungen haben diese inkarnative Qualität. Ostern ist keine story von makellosem Erfolg oder glänzender Souveränität, sondern verstört. Eben davon wird auf inhaltlicher Ebene erzählt. Die Frauen am Grab treffen unvorhergesehen auf die Leerstelle: Jesus ist weg. Was sie dort zu sehen und zu hören bekommen, verstört sie zutiefst und schlägt sie in die Flucht. „Denn sie fürchteten sich“. Ebenso irritiert sind auch die Jünger, als ihnen davon erzählt wird: helle Aufregung; und die empörte Unterstellung, die Frauen seien von Sinnen. Später am leeren Grab werden auch sie irritiert davongehen. Dort läuft ein Schauder über den Rücken.

      Nicht nur auf inhaltlicher Ebene wird von Verstörendem, Irritierendem, Empörung erzählt. Analog zu den Geburtserzählungen wirken die Osternarrative in ihrem religionspolitischen Kontext ebenfalls so. Wie kann es denn sein, dass Gott gerade mit einem Menschen identifiziert ist, der als von Gott verworfen/verflucht galt und aus der Sphäre des ehrbaren Lebens ausgesondert war? Wer vom auferstandenen Gekreuzigten erzählt(e), stellt nicht nur herrschende Souveränitätstheologien infrage, sondern beansprucht darin Lebens- und Verkörperungsweisen, die sich dem Zugriff herrschender Mächte entziehen und zugleich deren Exklusionsmechanismen kritisch spiegeln.

      Auch heutige Kontextstrukturen können in diesem Sinne aufgebrochen werden. In der Figur des Auferstandenen begegnet uns kein froher, über alles Leiden erhabener, makellos schöner Strahlemann. Erst recht nicht begegnet uns dort einer, der sich als Gründungsfigur einer imperialen Weltkirche heranziehen ließe. Ganz im Gegenteil. Wir bekommen es dort mit einem geschlagenen, geschundenen, geschändeten Menschen zu tun. Er hat die große Dissoziation hinter sich und war in einen Bereich des Todes geraten, wo kein Leben mehr geblieben war, außer einem erstickten Schrei. Es ist unfassbar, dass dieser geschändete und getötete Mensch nun wieder unter den Lebenden sein soll! Und dass Gott gerade mit ihm/ihr identifiziert ist! Jenseits von verklärendem Osterfrohlocken schauen wir hier einer verstörenden Gestalt ins Gesicht, von der sich mancher vielleicht abwenden will.

      Diese Erscheinungsgestalt rückt die Ostererzählungen in die Nähe von Geistererzählungen (vgl. Hoff) statt in die Nähe von Heldenepen. Vor allem aber verbindet sie Ostern mit Missbrauchserzählungen. Ostern kann einem, so wie diese, einen Schauder über den Rücken jagen. Aber gerade dieser Schauder des Erzählens führt auch zu jener kritischen und kreativen Kraft, die inkarnativen Erzählungen eigen ist: Im auferweckten Gekreuzigten spiegeln sich diejenigen Mächte und Gewalten, die bestimmte Leben und Erfahrungen unsichtbar, unsagbar, unerkennbar machten. Ihre „Nekropolitik“ (Achille Mbembe) wird aufgedeckt. Darin wird zugleich eine Veränderung der Herrschaftsbedingungen gefordert und in der Erzählung der Erscheinungen des de-realisierten Lebens performativ, hier und jetzt, in Anspruch genommen.

      KRITISCH GEGENÜBER GROSSEN ERZÄHLUNGEN

      Es entfaltet darin eine politische Kritik, die den Widerspruch zu herrschenden Ordnungen der Sichtbarkeit, Sagbarkeit und Verkörperung von menschlichen Leben und Erfahrungen mit einschließt. Es plädiert und realisiert dabei ebenso kreativ, im Sprechakt der Erzählung selbst, eine andere Weise des Lebens und entsprechender Verkörperungsbedingungen und fordert ein, dass diese in Zukunft gesellschaftlich lebbar gemacht werden. Diese Perspektive ist notwendigerweise partikular, weil sie an den jeweiligen partikularen Rahmen gebunden ist, in dem sie auftaucht, und weil jeder Totalisierungs- bzw. Universalisierungsversuch von der Unfassbarkeit der Leerstelle Gottes unterlaufen wird.

      Das Evangelium Jesu ist eine partikulare Aktivität, die Große Erzählungen entzaubert.

      Kurz gesagt: Das Evangelium ist keine Große Erzählung. Es ist ein kleiner Tweet, der Unsagbarkeiten und Unfassbarkeiten einspielt. Seine Kraft entfaltet sich im Raum, der Bedingungen von Sichtbarkeit, Sagbarkeit und Verkörperung verändert, so dass verworfenes Leben zutage treten, Gestalt gewinnen, ins Leben kommen kann.

      LITERATUR

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