An der Seite des Lebens. Stephan Sahm
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Die segensreichen Fortschritte der Medizin haben das Sterben verändert. Die Erfolge der Therapie verlängern das Leben vieler Menschen. Doch oft ist es nicht klar, wie lange eine Behandlung fortgeführt werden darf oder soll. Medizin ohne Grenzen droht zur Qual zu werden. Viele wollen dem entgehen. Hinzu kommt der Überdruss am Leben, den manche Menschen verspüren. Sie wollen den Zeitpunkt des Sterbens bestimmen.
Kein Wunder, dass das Maß medizinischer Behandlung am Lebensende in der Gesellschaft umstritten ist. Nicht zuletzt Entwicklungen in einigen Ländern machen es unausweichlich, sich auch mit der Frage zu befassen, ob Sterbehilfe und Hilfe bei der Selbsttötung zum Repertoire der Medizin und der Pflege gerechnet werden sollen.
In den Beneluxstaaten und Kanada ist die aktive Sterbehilfe straffrei, in acht Bundesstaaten der USA, in der Schweiz und im Bundesstaat Victoria in Australien ist die Hilfe der Ärztinnen und Ärzte bei der Selbsttötung erlaubt. Erst kürzlich wurde ein entsprechendes Gesetz in Neuseeland angenommen. Mehr noch: Suizidwillige könnten als Ressource für die Entnahme von Organen dienlich sein. Ärztinnen und Ärzte aus Kanada berichteten darüber im renommierten New England Journal of Medicine.
Im Herbst des Jahres 2015 hat der Deutsche Bundestag ein Gesetz verabschiedet, das geschäftsmäßige Hilfe beim Suizid untersagt. Das Bundesverfassungsgericht hat diese Regelung im Februar 2020 aufgehoben. Verunsicherung macht sich breit. Wie lange soll die Medizin das Leben erhalten? Soll die Assistenz beim Suizid leicht zugänglich sein? Ist es die Vollendung der Selbstbestimmung des modernen Menschen, den Zeitpunkt des Todes exakt zu bestimmen, wie manche behaupten?
Viele engagierte Pflegende, Angehörige und Ärztinnen und Ärzte stellen sich diesen Fragen täglich, wenn sie Menschen am Lebensende begleiten. Wer darauf Antworten geben will, muss die Ziele der Medizin bestimmen. Ausmaß einer Behandlung und ihre Grenzen festzulegen ist nicht nur eine fachliche Herausforderung für Ärzteschaft und Pflegende. Diese Herausforderung geht alle an.
Noch ein Hinweis ist wichtig. Wenn von Ethikexpertinnen und -experten die Rede ist, sei zur Vorsicht gemahnt. Ethik ist keine Wissenschaft wie andere. Als moralisch Handelnde sind alle Personen gleich. Dennoch ist es Voraussetzung der Urteilsbildung, Sachverhalte, Argumente und Gründe zu kennen. Darum geht es in diesem Buch.
Wie eine Gesellschaft mit Sterbenden umgeht, kennzeichnet sie. Begleitung, Behandlung von Beschwerden und Linderung am Lebensende sind unverzichtbarer Auftrag der Humanität. Es ist daher notwendig, Begriffe und Konzepte zu klären, um im Streit um aktive Sterbehilfe, Suizidassistenz und die Grenzen der Behandlungspf licht Stellung nehmen zu können.
Dies ist kein Lehrbuch der Medizin oder Pflege. Vielmehr geht es um Ziele und ethische Grenzen der Sterbebegleitung. Die Auseinandersetzung mit diesen Fragen ist notwendig und dient der Selbstvergewisserung all derer, die Menschen am Lebensende begleiten: Angehörige, Pflegende, Ärztinnen und Ärzte, die unzähligen Menschen, die sich in Hospizen, auf Palliativstationen und bei der Betreuung zu Hause um Sterbende sorgen. Und schließlich geht es uns als sterbliche Menschen alle an.
Zuletzt wird die Frage zu stellen sein, was die Motivationen sind, die hinter einer ethischen Überzeugung stehen. Diese Frage wird in der öffentlichen Diskussion vernachlässigt, wenn nicht verheimlicht. So klafft eine Lücke. Es fehlt die Offenlegung, warum man den einen Gründen folgt, anderen nicht. Die Quellen der Barmherzigkeit, an der Seite des Lebens zu stehen, sind zu benennen.
Die Ausführungen in diesem Buch fußen nicht allein auf der Kenntnis einschlägiger Literatur der Medizinethik, Theologie und Philosophie. Sie sind erfahrungsgesättigt aufgrund des Umganges mit und der Begleitung von unzähligen Patientinnen und Patienten am Lebensende. Die ethischen Positionen haben den Praxistest bestanden. Es sprengte den Rahmen, wollte man sie jeweils an Fallgeschichten illustrieren. Das wäre ein Projekt für ein zweites Buch.
Und schließlich sei auf die weiterführende Literatur und die Endnoten verwiesen. Hier finden interessierte Leserinnen und Leser die wissenschaftlichen Belege für die hier vorgelegte Argumentation und die sich ergebende Positionierung im gesellschaftlichen Streit.
2. Sterbehilfe oder Sterbebegleitung – medizinische Handlungen am Lebensende
Wie kaum ein anderer Streitfall in der Gesellschaft belegt die Diskussion um aktive Sterbehilfe und Hilfe beim Suizid die Erkenntnis der Sprachphilosophie, dass es auf die Wahl der Worte ankommt. Eine sachgerechte Beschreibung der Handlungen ist Voraussetzung einer angemessenen ethischen Bewertung. Es wäre eine eigene zeitgeschichtliche Betrachtung wert, wie die Wahl der Worte die medizinethische Diskussion in den letzten Jahrzehnten beeinflusst hat.
Klare Unterscheidungen sind notwendig. Denn viele Handelnde sind verunsichert. Sie vermögen oft nicht, spezifische Maßnahmen in ihrem ethischen Gehalt einzuordnen. Manche belasten so ihr Gewissen. Andere wiederum meinen, dass die Medizin am Lebensende ohnehin den Tod der Patientinnen und Patienten herbeiführe – wenn nicht in voller Absicht, so doch mit großzügiger Inkaufnahme. Daher müssten, so einige Verfechterinnen und Verfechter der aktiven Sterbehilfe und Assistenz beim Suizid, auch diese Handlungen erlaubt sein.
Mehr noch: Von den Befürworterinnen und Befürwortern wird eine vermeintliche Unklarheit der Begriffe behauptet, um der Liberalisierung von Akten, die den Tod von Patientinnen und Patienten herbeizuführen beabsichtigen, den Weg zu bereiten. Man kommt nicht umhin, dahinter in manchen Fällen eine Strategie zu vermuten. Die Formulierung „Herbeiführung des Todes“ verharmlost. Es geht um das Töten auf Verlangen oder geschäftsmäßige Hilfe bei der Selbsttötung. Beide Handlungen können als zivilisatorischer Bruch bezeichnet werden.
In dem vielfältigen Geflecht von Motiven vermögen nicht alle eine klare Linie zu erkennen. Medizinische Sachverhalte sind oft komplex. Die Sicht der Patientinnen und Patienten, der Angehörigen und der Behandlungsteams werden nicht selten missverstanden. Daher ist es unabdingbar, die Begriffe eingehend zu beleuchten, mit denen medizinische Handlungen am Lebensende zu beschreiben sind. Die Wahl der Worte hat Konsequenzen. Denn sie bestimmt die normative Einordnung, das ethische Urteil.
Sterbehilfe versus Sterbebegleitung
Die Bezeichnung Sterbehilfe ist vieldeutig. Sie kann den Beistand, die Fürsorge, die symptomlindernde Behandlung meinen, mit denen Patientinnen und Patienten am Lebensende umsorgt werden. Diese Unschuld hat der Begriff jedoch längst verloren, denn in der mit den Beiworten aktiv/passiv/indirekt belegten Version wird den Handelnden vielfach unterstellt, den Tod der Patientinnen und Patienten anzustreben. Sterbehilfe umfasst mithin viele Komponenten.
In der juristischen Literatur wurde eine Weile versucht, die Unterscheidung auf andere Weise zu treffen. Es wurde eine Hilfe beim Sterben von der Hilfe zum Sterben unterschieden. Letztere Teilbedeutung meint die aktive Sterbehilfe, die im Ausland als active euthanasia bezeichnet wird. Die Hilfe beim Sterben umfasst die Maßnahmen und Handlungen, die auch auf den Sterbebeistand ausgerichtet sind. Besser sollte man von Sterbebegleitung sprechen. Dies ist die Wortwahl, die sich die Deutsche Ärzteschaft zu eigen gemacht hat.
Die Vieldeutigkeit des Begriffes Sterbehilfe ist häufig Ursache einer Konfusion in den Debatten. Selbst erfahrene Journalistinnen und Journalisten wissen oftmals nicht, die eine Handlung von der anderen zu unterscheiden. Dies hat der Autor in vielfachen Gesprächen, Diskussionen und Interviews erleben müssen. Der vormalige Pressesprecher der Weltärzteorganisation, der World Medical Association, hat dies in einer Konferenz in Rom vor einigen Jahren bestätigt. Wer in den Medien Karriere machen will, muss sich in der Politik, in der Wirtschaft profilieren. Wenn es um die Frage der Medizin am Lebensende geht, werden oft unerfahrene Kolleginnen und Kollegen für die Berichterstattung herausgesucht, wenn nicht Volontäre