Glaubensgeschichten sind Weggeschichten. Helmut Schlegel
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Ein zweites Motiv, das Lukas bereits zu Beginn anklingen lässt, ist der sich immer wiederholende Verweis auf die Heilige Schrift der jüdischen Tradition. Das dritte Evangelium betont, dass alles, „was sich unter uns ereignet und erfüllt hat“ (Lk 1,1), haargenau dem entspricht, „was die Propheten gesagt haben“ (Lk 24,25). Ob Lukas selbst Jude war, ist nicht sicher auszumachen. Er war sowohl im jüdischen als auch im hellenistischen Kulturkreis zuhause und zeigt eine geistige Nähe zum Diaspora-Judentum. „Anders als andere – spätere – christliche Theologen vermag er keinen ‚Bruch‘ zu sehen zwischen dem Judentum und der Botschaft Jesu, im Gegenteil: Für ihn ist Jesus der Prophet, der geisterfüllt in der Lage ist, die Schrift zu deuten: ‚Heute hat sich das Schriftwort, das ihr eben gehört habt, erfüllt‘ (Lk 4,21).“2
Bereits am Anfang des Evangeliums bringt Lukas seine Grundaussagen zum Ausdruck: Jesus ist als Gottes menschgewordener Sohn auf dem Weg, um die Armen und Erniedrigten zu suchen. In ihm erfüllen sich die Heiligen Schriften. Seine Botschaft und sein Werk haben sowohl eine geistliche als auch eine weltgestaltende Dynamik.
Schon die Erzählung von der Geburt und Kindheit Jesu ist eine Weggeschichte. Auf dem Weg zur Volkszählung gebiert Maria ihr Kind. Er, der Messias, der die Mitte und der Angelpunkt der Geschichte sein wird, kommt unbemerkt und am Rande des öffentlichen Geschehens zur Welt. Er wird den Gott des Weges und der Bewegung verkünden, nicht den Gott der Standpunkte und des Besitzerglaubens. Es wird sein Verlangen sein, zu den Menschen zu gehen und „zu suchen und selig zu machen, was verloren ist“ (Lk 19,10). Ganz besonders wird er die Armen und die sozial und religiös Ausgeschlossenen suchen: die Sünder, Zöllner, Frauen, Kinder, Kranken, Ungebildeten und Unvermögenden.
Diese Grundaussagen sind sozusagen die Schlüssel des Evangeliums und ermöglichen uns so den ersten Blick in das „Haus“ der lukanischen Botschaft. Wir wissen also, was uns erwartet und worum es geht.
Wenden wir uns dem Schluss des Evangeliums zu. Finden wir dieselben Grundaussagen? Dieselben Motive? Verstärkt das letzte Kapitel noch einmal den ersten entscheidenden Eindruck? Schickt es uns los mit der tragenden Erinnerung an das, „was sich unter uns ereignet und erfüllt hat“ (Lk 1,1)?
Lukas konzentriert das ganze Ostergeschehen und die Erscheinungen des Auferstandenen auf einen einzigen Tag. Dieser Tag teilt sich in vier Abschnitte auf:
Zunächst gehen die Frauen zum Grab und wollen den Leichnam Jesu salben. Das Grab aber ist leer. „Zwei Männer in leuchtenden Gewändern“ (Lk 24,4) verkünden ihnen, er sei auferstanden. Die Frauen erinnern sich der Worte Jesu, kehren in die Stadt zurück und berichten alles, was sie erlebt haben, den Jüngern. Diese aber glauben (ihnen) nicht. Da geht auch Petrus zum Grab und findet alles so, wie die Frauen berichtet haben. Dann geht er nach Hause „voll Verwunderung über das, was geschehen war“ (Lk 24,12).
Den zweiten Abschnitt bildet die Emmauserzählung.
Im dritten Abschnitt begegnet Jesus selbst den Jüngern, gibt sich ihnen als der Auferstandene zu erkennen und „öffnet ihnen die Augen für das Verständnis der Schrift“ (Lk 24,45). Lukas betont wieder und wieder, dass die Geschichte Jesu, dessen Tod und Auferstehung mit den Heiligen Schriften übereinstimmen.
Schließlich führt Jesus die Jünger hinaus „in die Nähe von Betanien“ (Lk 24,50), segnet sie und wird vor ihren Augen zum Himmel erhoben.
Zweifellos stellt die Emmauserzählung die Mitte und den Höhepunkt des lukanischen Osterberichtes dar. Dabei streiten sich die Gelehrten, was dieser Text eigentlich ist: historischer Bericht, Legende, Bekenntnis, kunstvolle Lehrerzählung? Auf jeden Fall stellt sie ein eindrucksvolles Finale des ganzen Evangeliums dar. Wie in einer dramatischen Oper nimmt der Evangelist noch einmal die tragenden Themen des „ganzen Stücks“ auf, spitzt sie zu, drückt seine Hoffnung und seine Begeisterung aus, fokussiert den Blick aufJesus.
Was geschieht in dieser Geschichte? Zwei Menschen sind auf der Flucht. Sie gehen in Gegenrichtung zum Weg Jesu, der nach Jerusalem zog, um dort alles zu vollenden, „was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht“ (Lk 24,27b). Die beiden Jünger haben seine Absichten nicht verstanden – genauso wenig wie jene, die in Jerusalem geblieben waren. Sie haben nicht verstanden, dass er sich trotz aller Widerstände zum Gott der Armen und Erniedrigten bekannte. Nicht, dass er auch die Konsequenz der Verurteilung und Hinrichtung in Kauf nahm. Nicht, dass er seine Lebenshingabe als Ausdruck der Liebe verstand, die stärker ist als die Mächte des Todes. Weil sie es nicht verstanden haben, sind sie geflohen. Wer könnte sie verurteilen? Gehören nicht auch sie zur Gruppe der „geistlich Armen“, die Jesus seligpreist? Sie selbst rechnen sich jedenfalls zu den Verlierern, zu den von Gott Verlassenen und in ihrer Hoffnung Enttäuschten. Dass der auferstandene Jesus auch die „Verlierer“ aufsucht und ihnen auf dem „falschen“ Weg folgt, passt ganz in die lukanische Theologie.
Diese Ostergeschichte beginnt am ersten Tag der Woche – dies ist zugleich der achte Tag. Tag der Vollendung der Schöpfung. Tag der Auferstehung, mit dem die Geschichte nicht endet, sondern neu beginnt. Wieder sind es die Frauen, die das Neue „einläuten“. Während die Jünger ihren Bericht vom leeren Grab und von der Botschaft der „zwei Männer in leuchtenden Gewändern“ (Lk 24,4) als Geschwätz abtun, sind sie es, die offen darüber sprechen und somit zu den ersten Zeugen der Auferstehung werden. Auch die zwei Emmausjünger glauben den Frauen nicht, halten deren Bericht aber doch für so bemerkenswert, dass sie dem Fremden, der sich zu ihnen gesellt, ausführlich davon erzählen.
Wieder haben wir eine Weggeschichte. Wege sind nicht einfach da, nicht „fertig“. Sie werden, entwickeln sich zu einer gangbaren Wirklichkeit, locken an ein Ziel, das der Anfang noch nicht kennt. Die Jüngerinnen und Jünger Jesu können den Glauben an die Auferstehung Jesu nicht wie ein neues Kleid anziehen, sie müssen Schritt für Schritt gehen, um ihn mit Leib und Seele zu erfahren. Der Weg ist nicht geradlinig. Trauer und Schweigen, Wut und Enttäuschung, Aufbegehren und Suchen, Zuhören und Ahnen, Teilen und Mitteilen – der christliche Osterweg hat viele Stationen, Anhaltspunkte, Unterbrechungen. Schließlich ist mit dem Weg eine Sendung verbunden. Die zwei Emmauswanderer werden zu Boten, sie werden ihre Erfahrung und Begeisterung mit den „anderen“ (Lk 24,33) teilen.
Wie in der Kindheitsgeschichte so ist auch in der Emmauserzählung Jesus die Mitte des Geschehens. Im ersten Kapitel seines Evangeliums stellt Lukas die Menschwerdung Jesu in Armut und Bedürftigkeit in den Vordergrund. Im letzten Kapitel wird deutlich, dass Jesus bleibend gegenwärtig ist – in den Heiligen Schriften und in der Feier des Brotbrechens. Die beiden Emmausjünger erinnern sich schließlich, dass ihnen bereits unterwegs, als er ihnen die Heiligen Schriften auslegte, das Herz brannte. Und sie wissen, dass das Brotbrechen von jetzt an das Erkennungszeichen für die Gegenwart des Auferstandenen sein wird.
Die im Grunde traurige Tatsache, dass Jesus sich den Blicken der Jünger entzieht, wird überstrahlt von der Erfahrung, dass sie selbst Träger des österlichen Glaubens und der österlichen Botschaft sind. Wenn es auch schon Abend ist, nichts hält sie an dem Ort, an den sie geflohen sind. Es drängt sie zurück zu den anderen, in die Stadt. Sie werden den Glauben an den auferstandenen Jesus weitergeben. Sie werden das nicht nur in Worten, Gebeten und Gottesdiensten tun, sie werden der Spur Jesu folgen. Die Botschaft von der Auferstehung Jesu hat eine Sendung zur Konsequenz. Sie führt nicht aus der Welt, sondern in die Welt. Sie enthält den Auftrag, das Reich Gottes zu verkünden und ihm schon jetzt Gestalt zu geben.
Ersichtlich ist, dass die Grundmotive und Grundaussagen in der lukanischen Kindheitsgeschichte und in der Emmauserzählung dieselben sind. Der Einblick im ersten Kapitel wird zum Ausblick im letzten.