Resilienzcoaching für Menschen und Systeme. Günther Mohr
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Resilienz ist also zutiefst systemisch zu sehen. Dies wird auch bei den Resilienzfaktoren (Abb. 1) deutlich.
Abb. 1: Resilienzfaktoren
Resilienz – eine billige Verschiebung von Verantwortung auf den Bürger?
Bevor konkrete Wege zur Resilienz und die Resilienzfaktoren angeschaut werden, soll eine grundlegende Kritik am Konzept Resilienz zu Wort kommen. Einige Kritiker wie der Geschäftsführer von Medico International, Thomas Gebauer (2015, 2016), sehen in diesem Ansatz die Verlagerung von Verantwortung staatlicher Organe oder Regierungen auf den einzelnen Bürger. Staaten gewähren ihren Bürgern nicht mehr den Schutz von Leib und Leben, sondern verlagern dies auf den Einzelnen. Dies reiche von Versäumnissen – wie zu wenig polizeiliche Präsenz – bis hin zu expliziter staatlicher Politik, die aus ideologischen Gründen unnötige Risiken schaffe. Als Beispiel sei Israel genannt, wo die rechten Regierungen die Siedlungspolitik in den besetzten Gebieten fördern, wohl wissend, dass die Palästinenser in ihrer Hilflosigkeit zu gewaltsamen Aktionen greifen, die israelische und andere Menschen in Palästina an Leib und Leben gefährden. Resilienz soll dann bei Einzelnen das ausgleichen, was Staaten »verbocken« oder mutwillig herbeiführen.
Diese Kritik soll hier sehr ernst genommen werden. Dies bedeutet konkret, dass Resilienz eben nicht das Feigenblatt für schlechtes Regierungshandeln sein darf, sondern dass der Staat für den Schutz seiner Bürger vor widrigen und gefährlichen Umständen zuständig bleibt. Fast jeder Minister in jedem Lande hat mit seiner Eidesformal geschworen, Schaden von seinen Bürgern fernzuhalten. Leider wird der Interpretationsspielraum oft recht breit ausgelegt. Psychologisch scheint es sogar so zu sein, dass gerade im populistischen Spektrum Politiker und Teile der Bevölkerung auf der Basis ihrer jeweiligen Projektionen gegen Dritte zueinander finden und fatale Eskalationen gesellschaftlicher Themen herstellen.
Gebauer mahnt zu Recht, dass Regierungspolitik nicht aus ideologischen, wirtschaftlichen oder machtpolitischen Gründen ein solches Desaster herstellen solle, das durch Resilienz vom Einzelnen ausgeglichen werden müsse. Hier kann der Begriff des »kleinen Mannes« wieder ins Spiel gebracht werden. Er stammt eigentlich aus den 1950er-Jahren in Deutschland und bedeutete, dass dem Einzelnen Anstrengung und – wie man annehmen kann – Verdrängung abverlangt wurde. Die »Unfähigkeit zu trauern«, wie Alexander und Margarete Mitscherlich (1967) die Schattenseite benannten, war der Preis. Es scheint eine Art Gesetz zu sein, dass Traumata nicht wegzudefinieren sind. Im Unbewussten der Menschen gären sie weiter. So folgte in den 1960er-Jahren und später durch die nächste Generation die Thematisierung und Auseinandersetzung mit dem Grauen. Echte Resilienz ist kein Verdrängen, sondern ein Wahrnehmen dessen, was gerade passiert oder passiert ist. Wenn dann, wie seit den 1990er-Jahren, die Forderung nach Resilienz die Schattenseiten der neoliberalen Wirtschaft kompensieren sollen, das heißt, wenn der Staat seine Aufgaben nicht mehr wahrnimmt und die Folgen davon auf den Einzelnen abschiebt, ist diese Forderung in Frage zu stellen. Ich habe dieses Thema im Buch Systemische Wirtschaftsanalyse–Mensch und Ökonomie in Einklang bringen (Mohr 2015) ausführlich behandelt. Man sollte also immer schauen, in welcher Situation und von wem Resilienz thematisiert wird.
Auch viele Staaten, die als failed state (gescheitertes Staatswesen) anzusehen sind, bzw. die Staaten, die dies bei anderen herbeiführen (z. B. die US-Amerikaner im Irak oder die Europäer und Amerikaner in Libyen; Israel in den Palästinensergebieten), bürden den Menschen Unmengen von Resilienzanforderungen auf. Ähnliches gilt auch für einen Großteil der afrikanischen Staaten. Dort kommen zur oft bitteren Armut noch die vielfältigen von Menschenhand verschärften Bedingungen (Korruption, Machtexzesse usw.) hinzu. Die Improvisationskünste der Menschen in diesen Ländern und auch ihr sozialer Zusammenhalt sind notgedrungen häufig sehr hoch entwickelt.
Dies hat sich auch in anderen historischen Situationen gezeigt. Beispielsweise hatten Menschen in der DDR und überhaupt in den Ostblockstaaten eine hohe Kompetenz zur gegenseitigen Unterstützung entwickelt. Der polnische Handwerker ist noch heute ein Synonym für gute Improvisationsfähigkeit. Und wer in der DDR ein Haus bauen wollte, musste ein ganzes Netzwerk haben (einen, der einen Lkw hat; Menschen, die an Baumaterialien herankommen usw.). Diese Netzwerk-Kompetenzen waren nach der Wende mit der flächendeckenden »Eroberung durch Baumärkte« nichts mehr wert. Man konnte ja nun alles kaufen. Generell können mit der Zunahme von käuflichen Gütern manche Eigenständigkeiten von Menschen verloren gehen, wie der amerikanische Philosoph Michael J. Sandel (2014) anmerkt.
Andererseits ist es bisher nirgendwo und niemals gelungen, das Leiden von den Menschen gänzlich wegzunehmen. Die »leidvolle Existenz« wird in vielen Weisheitslehren und Religionen – etwa im Buddhismus in seiner ersten Wahrheit »Das Leben ist Leiden« – an den Anfang der Analyse gestellt. Auch andere große Weisheitsgeschichten der Menschheit, wie etwa das biblische Neue Testament, das in die Passionsgeschichte mit der Kreuzigung Jesu mündet, thematisieren die schicksalhafte Schwere des Menschseins. Das Leidhafte des menschlichen Lebens, sei es die Sicherheit des Todes, die Existenz von Krankheiten, Naturkatastrophen, Unfälle oder andere Schicksalsschläge, bleiben erhalten. Da hilft kein Konsumparadies auf Erden. Die Daseinsanalytikerin Alice Holzhey-Kunz (2014) meint in ihrer Betrachtung der Polarität von Schicksalsglaube und Machbarkeitswahn, dass Hysteriker, die dauernd Gefahren wie Krankheitsanfälligkeiten zu sehen glauben, vielleicht realistischer seien als die, die dies ganz ausblenden. Da in der Meditation das Ziel verfolgt wird, das Leben ganzheitlich in seinem Wesen zu erfassen, hat schon der Buddha selbst in seinen Achtsamkeitsübungen auch solche Phantasien mit einbezogen, die sich mit dem eigenen Tod befassen (Thich Nhat Hanh 1999).
Sind nun die Menschen in Israel, einem Land, in dem Bedrohung und Spannung ständig vorhanden sind, resilienter als anderswo? Mir sind keine ländervergleichenden Untersuchungen bekannt. Ich würde die Frage auch nicht mit »ja« beantworten wollen. Die Menschen reagieren sehr unterschiedlich auf Spannung und Bedrohung. In Israel lässt sich ein gewisser Gewöhnungseffekt ausmachen und offensichtlich eine noch höhere Leidensfähigkeit bei den Palästinensern. Es wäre zu untersuchen, ob dies dann zu einem positiven zwischenmenschlichen Verhalten führt oder etwa zum Rückzug in die Familie, die in orientalischen Gesellschaften immer eine große Rolle spielt. Das Beispiel von Ofakim, einer israelischen Stadt, die in naher Raketenreichweite zum Gazastreifen liegt, zeigt, dass Menschen sich bei Bedrohungen eher aus der Öffentlichkeit und dem Gemeinschaftsleben zurückziehen. Wenn dort die Sirenen schrillen, haben die Menschen nur 20 Sekunden Zeit. Sie bleiben also im Schutzraum und konsumieren intensiv Fernsehen oder Internet.
Kollektive Traumata
Am Abend nach der ruhigen Nacht gibt es wieder Alarm, und wir schauen – obwohl wir eigentlich die Metallwand vor das Fenster ziehen sollten – hinaus, um die Raketen fliegen zu sehen. Es sieht ein bisschen wie ein Feuerwerk aus. Seit letzter Woche sind täglich bis zu 20 Raketen aus Gaza Richtung Israel abgefeuert wurden. Mit ihren von den USA gelieferten Abwehrraketen, »Iron Dome« genannt, gelingt es, einen Teil der Raketen abzufangen und zu vernichten. Ich weiß von einem Bekannten, dass diese zum Teil von jungen Mädchen abgefeuert werden, die in einem sicheren Bunker sitzen und die Waffen fernsteuern. Viele Raketen gehen auch wegen ihrer geringen Präzision in unbewohntem Gelände herunter. Aber letzte Nacht ist eine Farbenfirma und diese Nacht wieder ein Wohnhaus getroffen worden. Es ist eine hilflose, verzweifelte Kriegsführung der Hamas, die wenig bewirkt. Die Reaktion der Israelis mit ihrer überlegenen Armee auf diese Angriffe sind Bombenabwürfe auf die vermeintlichen Abschussrampen