Existenzielle Psychotherapie. Irvin D. Yalom
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All die zuvor genannten Perspektiven des Todes – kulturelle Tradition, klinische Erfahrung und empirische Forschung – haben starke Implikationen für die Psychotherapie. Das Hineinnehmen des Todes in das Leben bereichert das Leben; es befähigt die Menschen, sich von erdrückenden Alltäglichkeiten zu befreien, zweckvoller und authentischer zu leben. Die volle Bewusstheit des Todes kann radikalen persönlichen Wandel unterstützen. Jedoch ist der Tod eine primäre Quelle der Angst; er durchdringt unsere innere Erfahrung, und wir verteidigen uns dagegen durch eine Anzahl persönlicher Dynamiken. Darüber hinaus resultiert Todesangst, mit der in einer schlecht angepassten Weise umgegangen wird, in einer breiten Variation von Anzeichen, Symptomen und Charakterzügen, die wir als »Psychopathologie« bezeichnen, wie ich im vierten Kapitel ausführen werde.
Trotz dieser zwingenden Gründe schließt der Dialog in der Psychotherapie den Todesbegriff selten ein. Der Tod wird in fast jeder Hinsicht im Bereich der psychischen Gesundheit übersehen, und zwar auf eklatante Weise: in der Theorie, in der Grundlagenforschung und in klinischer Forschung, in klinischen Berichten und in allen Formen klinischer Praxis. Die einzige Ausnahme liegt in dem Bereich, in dem der Tod nicht ignoriert werden kann – der Versorgung eines sterbenden Patienten. Die sporadischen Artikel, die vom Tod handeln und die tatsächlich in der psychotherapeutischen Literatur erscheinen, sind normalerweise in zweit- oder drittklassigen Zeitschriften zu finden und bleiben anekdotisch. Es sind Kuriositäten am Rande des Hauptstroms der Theorie und Praxis.
Klinische Fallberichte
Das Auslassen der Furcht vor dem Tod in klinischen Fallberichten, um ein Beispiel zu nehmen, ist so offensichtlich, dass man versucht ist, auf nicht weniger als eine Verschwörung des Schweigens zu schließen. Es gibt drei Hauptstrategien, wie man in klinischen Fallberichten mit dem Tod umgeht.
• Erstens, die Autoren lassen dieses Thema selektiv aus und berichten keinerlei Material, das mit dem Tod zusammenhängt.
• Zweitens, die Autoren präsentieren umfangreiche klinische Daten in Bezug zum Tod, aber ignorieren das Material vollständig bei der Formulierung der Dynamik des Falles. Dies ist beispielsweise der Fall in Freuds Fallgeschichten, und ich werde später Beweise dafür liefern.
• Drittens, die Autoren können klinisches Material präsentieren, das auf den Tod bezogen ist, aber wenn sie den Fall beschreiben, übersetzen sie »Tod« in ein Konzept, das mit einer bestimmten Ideologierichtung übereinstimmt.
In dem viel zitierten Artikel Die Einstellungen von Psychoneurotikern zum Tod, der in einer führenden Zeitschrift veröffentlicht wurde, präsentieren zwei hervorragende Kliniker, Walter Bromberg und Paul Schilder, mehrere Fallgeschichten, in denen der Tod eine herausragende Rolle spielt.76
Beispielsweise entwickelte eine weibliche Patientin akute Angst nach dem Tod einer Freundin, der gegenüber sie erotische Gefühle empfand. Obwohl die Patientin ausdrücklich feststellte, dass ihre persönliche Furcht vor dem Tod dadurch entfacht wurde, dass sie ihre Freundin sterben sah, schließen die Autoren, dass »ihre Angstreaktion gegen die unbewusste homosexuelle Bindung, mit der sie kämpfte, gerichtet war … ihr eigener Tod bedeutete die Wiedervereinigung mit der homosexuellen Geliebten, die verschieden war … sterben bedeutete eine Wiedervereinigung mit dem verleugneten Liebesobjekt.«
Eine andere Patientin, deren Vater Leichenbestatter war, beschrieb ihre starke Angst: »Ich habe mich immer vor dem Tod gefürchtet, ich fürchtete, ich würde aufwachen, während sie mich einbalsamierten, ich habe diese seltsamen Gefühle unmittelbar bevorstehenden Todes. Mein Vater war ein Leichenbestatter. Ich habe niemals an den Tod gedacht, wenn ich mit Leichen zu tun hatte … aber jetzt habe ich das Gefühl, ich möchte wegrennen … ich denke ständig daran … ich fühle mich, als ob ich ihn wegkämpfen würde.« Die Autoren schließen daraus, dass »die Angst vor dem Tod der Ausdruck eines unterdrückten Wunsches ist, passiv zu sein und von dem Vater-Leichenbestatter versorgt zu werden.« Ihrer Ansicht nach ist die Angst der Patientin das Produkt ihrer Selbstverteidigung gegen diese gefährlichen Wünsche und ihres Wunsches nach Selbstbestrafung für ihren inzestuösen Wunsch.
Die anderen Fallgeschichten im gleichen Artikel liefern weitere Beispiele der Übersetzung von Tod in das, was die Autoren für grundlegendere Ängste halten: »Tod bedeutet für diesen Jungen letzte sadomasochistische Befriedigung in einer homosexuellen Wiedervereinigung mit dem Vater« oder »Tod bedeutet für ihn die Trennung von der Mutter und ein Ende des Ausdrucks von seinen unbewussten libidinösen Wünschen.«
Man kann offensichtlich nur darüber staunen, warum es solch einen Drang zur Umdeutung gibt. Wenn das Leben eines Patienten durch eine Furcht beschnitten ist, sagen wir, vor offenen Räumen, Hunden, radioaktiven Störfällen, oder wenn jemand ständig mit zwanghaften Grübeleien über Sauberkeit, oder ob die Türen verschlossen sind, beschäftigt ist, dann scheint es einen Sinn zu haben, diese oberflächlichen Besorgnisse in grundlegendere Bedeutungen zu übersetzen. Aber res ipsa loquitur, eine Todesfurcht kann eine Todesfurcht sein und ist nicht übersetzbar in eine »tiefere« Furcht. Vielleicht ist es, wie ich später ausführen werde, nicht eine Übersetzung, die der neurotische Patient braucht; er oder sie ist vielleicht nicht außer Kontakt mit der Realität, sondern stattdessen zu nahe an der Wahrheit, weil er nicht in der Lage ist, normale »Verleugnungsmechanismen« wirken zu lassen.
Klinische Forschung
Unachtsamkeit gegenüber dem Todesbegriff hat auch weitreichende Implikationen für die klinische Forschung. Betrachten wir zum Beispiel den Bereich des Trauerns und des Verlustes. Obwohl viele Forscher die Anpassungsfähigkeit der Überlebenden peinlich genau untersucht haben, haben sie ständig versäumt zu berücksichtigen, dass der Überlebende nicht nur einen »Objektverlust« erlitten hat, sondern dass er auch dem Verlust seiner selbst begegnet ist. Unter dem Kummer um den Verlust eines anderen liegt die Botschaft: »Wenn deine Mutter (dein Vater, Kind, Freund, Partner) stirbt, dann wirst du auch sterben.« (Kurz nachdem einer meiner Patienten seinen Vater verlor, hatte er die Halluzination einer Stimme, die von oben auf ihn die Worte herabdröhnte: »Du bist der nächste.«) In einer viel zitierten Studie über Witwen im ersten Jahr nach ihrem Verlust berichtet der Forscher über Aussagen der Personen wie »Ich habe das Gefühl, dass ich am Rande einer schwarzen Grube entlanggehe« oder über Kommentare von der Art, dass sie die Welt jetzt als unsicheren und möglicherweise schädlichen Ort ansehen oder dass das Leben bedeutungslos und ohne Sinn zu sein scheint; oder dass sie wütend, aber ohne ein Ziel für diese Wut sind.77 Ich glaube, dass jede dieser Reaktionen, wenn sie tiefgehender erkundet würde, einen Forscher zu wichtigen Schlüssen über die Rolle des Verlusts als einer Erfahrung führen würde, die das Potenzial in sich hat, die Begegnung des Überlebenden mit seinem oder ihrem persönlichen Tod zu erleichtern. Der Forscher dieser Studie jedoch arbeitete, wie auch andere in ausführlichen Studien über Trauerfälle, die ich gelesen habe, innerhalb eines anderen Bezugsrahmens und versäumte es demgemäß, den reichen Boden zu beackern. Dieses Versäumnis ist ein weiteres beklagenswertes Beispiel der Verarmung, die erfolgt, wenn die Verhaltenswissenschaft spontan offensichtliche Wahrheiten ignoriert. Vor viertausend Jahren wusste der Protagonist in einem der ersten Schriftstücke, dem babylonischen Epos Gilgamesch, sehr wohl, dass der Tod seines Freundes Enkidu seinen eigenen Tod bedeutete: »Nun, was für ein Schlaf ist das, der dich ergriffen hat? Du wurdest dunkel und kannst mich nicht hören. Wenn ich sterbe, wird es mir nicht wie Enkidu ergehen? Kummer dringt in mein Herz, ich fürchte mich vor dem Tod.«78
Der Klinische Praktiker
Einige Therapeuten stellen fest, dass Sorgen bezüglich des Todes von den Patienten einfach nicht erwähnt werden. Ich glaube jedoch, dass das wirkliche Problem darin besteht, dass die Therapeuten nicht bereit sind, sie zu hören. Ein Therapeut, der empfänglich ist, der die Sorgen des Patienten