Lernen (E-Book). Prof. Dr. Claudio Caduff
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Christoph Städeli
Leiter der Abteilung Sekundarstufe II/Berufsbildung der Pädagogischen Hochschule Zürich
*Die Ausbildungen an der Pädagogischen Hochschule Zürich beruhen auf einem vom Dozierendenteam entwickelten Modell, das die Tätigkeit von Lehrpersonen in der Berufsbildung in zehn Handlungsfelder und knapp vierzig Kompetenzen aufgliedert. Die Themen der einzelnen Handlungsfelder sind auf dem Heftrücken der «didaktischen Hausapotheken» abgedruckt. In diesem Heft liegt der Fokus auf den Handlungsfeldern 1, 2, 5 und 8: «Das Fach und seine Didaktik meistern», «Entwicklung und Lernen unterstützen», «Selbstgesteuertes Lernen fördern» und «Berufliches Handeln reflektieren und weiterentwickeln».
Die Fähigkeit zu lernen ist wie die Fähigkeit zu sprechen eines der bedeutendsten Merkmale der Spezies Mensch. Die Voraussetzung lernen zu können ist für unser Leben notwendig, weil wir im Gegensatz zu Tieren eine relativ geringe Instinktausstattung haben. Das Lernen, das seinen Ursprung im Denken hat und damit etwas «Unnatürliches» ist, setzt den Menschen in ein einzigartiges Verhältnis zur Welt – es konstituiert das Subjekt. Damit wird Lernen gleichzeitig zu einer «wundervollen Möglichkeit» (Göhlich & Zirfas 2007, S. 7) der Welterschliessung und des Weltbezugs und zu einer Notwendigkeit der Menschwerdung, die sich besonders in der Schule und auch in der beruflichen Aus- und zunehmend in der Weiterbildung zeigt. Möglichkeit (Freiheit) und Notwendigkeit (Zwang) sind somit charakteristisch für das Lernen.
Obwohl Lernen uns durch seine enge Verbindung mit Erkenntnis und Erfahrung täglich begleitet und wir alle fühlen, wann wir lernen, und vor allem wissen, was wir gelernt haben, ist uns das Lernen häufig nicht bewusst und eigentlich unbekannt. «Unter allen menschlichen Leistungen scheint das Lernen seiner Natur nach zum Verborgensten und Unbekanntesten zu gehören», lautet ein mittlerweile bekanntes Diktum von Günther Buck (1967, S. 11). Vieles, stellt er fest, lernen wir unbewusst und Gewohnheiten und Fertigkeiten üben wir so ein, dass Bewusstheit dieser das Lernen sogar behindern würde. Gleichzeitig ist uns das Lernen in der alltäglichen Erfahrung vertraut, und zwar «nicht nur sofern wir selbst Lernende sind, sondern auch sofern wir uns als Lehrende ausdrücklich auf das Lernen des anderen einstellen» (Buck 1967, S. 12). Auch andere Pädagoginnen und Pädagogen folgen Bucks Feststellung: Käte Meyer-Drawe hält Lernen für «ganz und gar undurchschaubar» (2008, S. 30), während Klaus Prange es als «die Unbekannte in der pädagogischen Gleichung » (2005, S. 82) bezeichnet, und Lutz Koch hält fest, dass «die überaus verwickelte Gesamtstruktur des Lernens […] viele Momente und Zusammenhänge, Probleme und sogar Paradoxien» (2015, S. 76) enthält.
Aufgrund seiner überragenden Bedeutung für den Menschen war und ist das Lernen Gegenstand nicht nur der Pädagogik, sondern vieler anderer Wissenschaften, von der Philosophie (besonders in der Erkenntnistheorie) bis zu den Ingenieurswissenschaften (zum Beispiel beim «deep» oder «machine learning»). Für Platon war Lernen Wiedererkennen auf der Grundlage der Seelenwanderungslehre seiner Zeit. Auch wenn man diese Annahme heute nicht mehr teilt, enthält sie etwas Wesentliches: Das Verhältnis von Lehren und Lernen ist nicht eines, in dem die Lehrperson den Lernenden etwas überträgt, vielmehr weckt sie in den Lernenden eine Bewegung, die bereits in ihnen gleichsam schlummernd vorhanden ist (vgl. dazu Waldenfels 2009). Zwei weitere Merkmale des Lernens scheinen bei Platon auf. Einerseits besteht das Paradox des Lernens darin, dass es bereits Wissen zur Voraussetzung hat und insofern «lässt sich Lernen nicht als Übergang von Nichtwissen zu Wissen verständlich machen» (Meyer-Drawe 2008, S. 19), vielmehr ist es eine «Umwandlung eines Vor-Wissens zum anders-Wissen» (ebenda). Und diese Umwandlung – das ist das zweite Merkmal, das bereits Platon festhält – stösst auf Widerstand und ist schmerzhaft. Wissen, Erkennen, Verstehen, Begreifen haben Reibungen, Irritationen, Störungen, die sich als Widerstand gegen die Anpassung einstellen, zur Voraussetzung. Die Wiederkennung ist ferner nicht ein Erkennen von etwas, was man schon weiss, vielmehr wird mehr erkannt als nur das Bekannte und erst das löst die Freude des Wiedererkennens aus (vgl. dazu Gadamer 1972, S. 109). Auch für Aristoteles bedarf das Wissen des Vorwissens, wobei er in Abgrenzung zu Platon zwischen praktischem und wissenschaftlichem Wissen unterscheidet. Lernen vollzieht sich für ihn vom praktischen Vorwissen zum wissenschaftlichen Wissen.
In der Folge geriet die Bedeutung der Herkunft des Lernens, wie sie Platon und Aristoteles betont haben, zunehmend aus dem Fokus und das Lernverständnis wurde zukunftsorientiert. Die Lernenden gelten als leer, bevor sie etwas gelernt haben. Diese bereits von den Sophisten vertretene Ansicht ist für religiöses Lernen grundlegend. Hier geht es um die Vermittlung religiös-ethischer Prinzipien durch einen Lehrer; der Priester, der Rabbiner und der Imam vermitteln Gottes Willen, sie stehen zwischen Gott und den Menschen, die zu gottgefälligen Wesen erzogen werden.
Während zu Beginn der Neuzeit Comenius seine Ideen zum schulischen Lernen in einem umfassenden Konzept festhält, für das die drei Wörter omnes, omnia, omnio (alle sollen alles allumfassend lernen) stehen, wurde das Lernen mit der Aufklärung zum Gegenstand wissenschaftlicher Forschung. In der Philosophie der Aufklärung von John Locke bis Immanuel Kant spielt Lernen in der Auseinandersetzung um die Vernunft und das Erkennen eine wichtige Rolle, obwohl die Philosophen sich kaum explizit mit dem Lernen auseinandersetzen. Für Käte Meyer-Drawe ist Kants Philosophie der Vernunft prägend für das weitere Verständnis von Lernen. Indem Kant die Voraussetzung für das Denken und die Welterkenntnis in das Subjekt verlegt, «findet die in der Folgezeit zunehmende Verinnerlichung und Intellektualisierung des Lernens eine gewichtige argumentative Grundlage in seiner Philosophie» (2008, S. 24).
In den jüngsten hundert Jahren prägen psychologische Lerntheorien (Behaviorismus, Kognitivismus, Konstruktivismus, neurowissenschaftliche Theorien) den wissenschaftlichen Diskurs. Doch daneben gab es auch pädagogische Theorien, die sich vor allem gegen die aus ihrer Sicht reduktionistischen psychologischen Theorien wandten (auf die bedeutendsten Theorien wird in Abschnitt 1.4 eingegangen).
Natürlich wurde immer wieder versucht, Lernen begrifflich zu bestimmen. Die nachfolgenden Beispiele zeigen nicht nur die Vielfältigkeit und grosse Varianz der Bemühungen, interessant ist auch die grosse Bandbreite von einfachen (offenen) zu komplizierten (exakten) Bestimmungen.
→«Lernen ist in pädagogischer Perspektive und im strengen Sinn eine Erfahrung» (Meyer-Drawe 2008, S. 15).
→«Lernen ist ein individueller, aktiver und ganzheitlicher Prozess, der auf Vorwissen aufbaut, mit Erfahrung zusammenhängt und eine nachhaltige Veränderung im Verhalten und in der Einstellung zu Folge hat» (Deutsches Schulamt 2011, zitiert in: Baur 2016, S. 10).
→«Lernen als ein bestimmt geartetes Tun des Lernenden mit dem Ziel […], etwas, was er noch nicht versteht und weiss, durch die Anleitung des Lehrers und die eigenen Bemühungen seines Lernens zu verstehen und zu wissen» (Koch 2015, S. 76).
→«Learning is a multidimensional process that results in a relatively enduring change in a person or persons, and consequently