Hört auf zu heulen. Christian Ortner

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Hört auf zu heulen - Christian Ortner

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nervt, ist die Weinerlichkeit und Larmoyanz, mit der diese Probleme im öffentlichen Raum abgehandelt werden, resultierend in einer zunehmenden Unfähigkeit und Unwilligkeit der Politik, gelegentlich harte aber notwendige Entscheidungen zu treffen.

      Könnte ja irgendjemand zu heulen beginnen.

      Anstatt etwa die enorme Verlängerung der menschlichen Lebenserwartung als ganz wunderbare Entwicklung zu feiern, wird so die daraus resultierende logische Notwendigkeit, eben auch länger arbeiten zu müssen, wehklagend als Zumutung empfunden.

      Anstatt den Aufstieg Chinas zu den prosperierenden Regionen als gewaltige Chance für den Export unserer Produkte und Fertigkeiten zu betrachten, wird über den zusätzlichen Wettbewerb mieselsüchtig gemotzt.

      Anstatt neue Möglichkeiten der Energiegewinnung – wie etwa das »Fracking« – als unerwartete Wachstumstreiber zu nutzen, verwenden wir sie vor allem, um unsere neurotischen Umwelt-Allüren zu kultivieren.

      Weltmeister sind wir in der Fähigkeit geworden, Fortschritt im Zweifel als Bedrohung zu verstehen, vor der wir ängstlich zurückzuweichen haben.

      Gespeist wird diese wenig zukunftsfreudige Mentalität nicht zuletzt von der im ganzen deutschen Kulturraum bis heute feststellbaren Neigung, sich mit Vergnügen zu Tode zu fürchten, vor was auch immer. Jene »German Angst«, die in ihrer österreichischen Version mit einem Schuss Übellaunigkeit und nonchalanter Ignoranz durchmischt ist, stellt einen höchst wirkungsvollen Treibstoff für die Betroffenheits- und Weinerlichkeitskraftwerke da. Denn wer sich dauernd vor irgendetwas fürchtet, dem wird auch verlässlich Grund geliefert werden, den Zustand der Welt zu beklagen. Diese »German Angst« ist der einzige Rohstoff, der zwischen Nordsee und Wörthersee in schier unbegrenzten Mengen vorhanden ist: Angst vor dem Atom, Angst vor dem Gen, Angst vor dem Klimawandel – schier unerschöpflich erscheint das deutsche Angstrepertoire. Eine Attitüde mit Tradition übrigens: »Wir schreiben den 7. Dezember 1835. In Deutschland findet eine kleine Revolution statt: Die erste deutsche Eisenbahn fährt von Nürnberg nach Fürth. Die Bevölkerung jedoch jubelt keineswegs angesichts dieser technischen Neuerung. Stattdessen hat sie Angst. Angst vor dem Explodieren der Dampfkessel. Angst davor, der vorüberfahrende Zug könnte das Vieh auf der Weide unfruchtbar machen. Angst vor der Geschwindigkeit von 35 Stundenkilometern, von der Menschen in Ohnmacht fallen könnten.

      176 Jahre später hat sich scheinbar wenig geändert. Bedenkenträgerei, Panikmache und das Schüren von Ängsten gehören immer noch zur deutschen Volksseele und lassen den Alltag oft gefährlich und wenig ermutigend aussehen.« (Der deutsche Publizist Carsten Tergast)

      Man kann sich des Eindrucks nicht wirklich erwehren: Würde man die heutigen Bewohner Deutschlands oder Österreichs samt ihrer politischen Klasse mit einer Zeitmaschine ins Jahr 1945 zurückbeamen, würden sie dort vermutlich nicht mit dem Wiederaufbau ihrer zerstörten Länder beginnen, sondern heulend zusammenbrechen und in flugs gegründeten Betroffenengruppen lauthals ihr Schicksal beklagen (diesfalls freilich ja auch völlig zu Recht).

      Dass hingegen die Kinder und die Enkelkinder jener Generation, die vor mehr als einem halben Jahrhundert tatsächlich Grund gehabt hätte, ihre Lebensumstände zu beklagen, heute schon »wütend und enttäuscht« sind, wenn ihnen das Leben mal einen Absagebrief zukommen lässt, muss als Form der psychischen wie intellektuellen Verweichlichung gedeutet werden, einer Unfähigkeit oder Unwilligkeit also, erheblich Anstrengungen zu unternehmen, Niederlagen oder Verluste hinzunehmen und eine gewisse Schmerzresistenz gegenüber den Zumutungen und Ungerechtigkeiten des menschlichen Daseins hinzunehmen. So, wie wir uns daran gewöhnt haben – und daran gewöhnt worden sind –, jedes kleine Wehwehchen sofort mit Schmerzkillern aus der Welt zu schaffen, neigen wir immer mehr dazu, jede kleinste Beeinträchtigung unserer Komfortzone als nicht hinnehmbare Zumutung zu verstehen, die gefälligst vom Staat beseitigt werden muss. Und zwar sofort, wenn geht.

      Es ist also letztlich ein Mangel an für das menschliche Überleben notwendiger Härte – primär gegen sich selbst, aber auch anderen gegenüber, wenn es denn sein muss –, der jene Weinerlichkeitskultur erzeugt und befördert, in der Empathie mehr zählt als Ergebnisse, Betroffenheit zur Bürgerpflicht wird und die Fähigkeit politischer Amtsträger, öffentlich zu heulen, gelegentlich mehr zu zählen scheint als ihre Fähigkeit, gediegene Entscheidungen zu fällen.

      Wie weit der Prozess der Verweichlichung auch und gerade unserer politischen Eliten vorangeschritten ist, kann besonders gut beobachtet werden, wenn die sich außerplanmäßig aus ihren Ämtern verabschieden müssen. Karl-Theodor zu Guttenberg etwa, als deutscher Bundesverteidigungsminister immerhin verantwortlich gewesen für das Leben und Sterben deutscher Soldaten im Krieg am Hindukusch, war bei seinem Rücktritt am 1. März 2011 offenkundig so von der eigenen Bedeutung überwältigt, dass er die Tränen kaum halten konnte. Als er seinen Rücktritt damit begründete, »am Ende seiner Kräfte« zu sein, bloß weil er angesichts seiner gemogelten Dissertation in die öffentliche Kritik geraten war, mag man das menschlich sympathisch finden – oder schlicht als Mangel an der einem derartigen Amt angemessenen Härte gegen sich selbst verstehen.

      Dergleichen ist neuerdings immer öfter zu besichtigen. Auch die damalige Salzburger Landeschefin Gabriele Burgstaller hatte am 12. November 2012, ihren wegen eines gewaltigen Finanzskandals nahenden Amtsverzicht vor Augen, jene mit Tränen gefüllt – wobei die Salzburger Bürger deutlich mehr Grund zu weinen gehabt hätten als die gescheiterte Politikerin – genauso wie der ehemalige deutsche Bundespräsident Horst Köhler am Tage seines Rücktritts seine Augen nicht trocken halten konnte. Irgendwie bemerkenswert auch die Tränen, die dem Sozialdemokraten Peer Steinbrück im Bundestagswahlkampf vor laufenden Kameras aus Gründen großer Ergriffenheit über sich selbst aus den Augen liefen – ausgerechnet jener Steinbrück, der politische Gegner mit Vergnügen als »Heulsusen« abqualifiziert.

      Handelte es sich bei solchen öffentlichen Tränenergüssen bloß um simples politisches Handwerkszeug zur Täuschung des Wählers, um Theatertränen sozusagen, man könnte getrost zur Tagesordnung übergehen. Zu befürchten ist aber: Politiker heulen immer öfter, weil ihnen, wenn auch aus völlig unangemessenen Gründen, tatsächlich zum Heulen zumute ist. Die meinen das ernst, und das ist nun wirklich zum Heulen.

      Im heute die öffentliche Meinung dominierenden Milieu der Familienaufsteller, Dauerbetroffenen und hauptberuflichen Mediatoren noch gar nicht bekannter Konflikte wird derartige Schwäche gerne zur Stärke umdefiniert (»starke Männer weinen« oder so). Tatsächlich ist freilich eine derartige Schwäche nichts als Schwäche, in diesem Kontext jedenfalls; und das wünscht man sich von einem Staatschef oder einem Verteidigungsminister ja doch eigentlich eher weniger. Aber ganz offensichtlich spiegelt sich in der Verweichlichung der Eliten bloß die Verweichlichung jener, die sie wählen. Passt schon, irgendwie. Vielleicht sollte man ja einen bundesweiten Tag der Träne einführen, an dem sich alle gemeinsam einmal so richtig schön ausheulen können.

      Man könnte das als etwas eigenartige, aber letztlich nicht sonderlich nachteilige Verfasstheit einer von Jahrzehnten des Wohlstandes und des Friedens konfliktscheu, harmoniebedürftig und veränderungsängstlich gewordenen Gesellschaft verstehen, stünden wir nicht in hartem Wettbewerb mit anderen Gesellschaften, die deutlich robuster gestrickt sind und nicht gleich mit Weinkrämpfen, Betroffenheitsattacken und Therapiebedürfnis auf Probleme und Herausforderungen reagieren. In diesem globalen Wettbewerb mit den USA, China, Indien, Brasilien und künftig wohl auch anderen aufsteigenden Nationen wird uns unsere Wehleidigkeit, unsere Weinerlichkeit und unsere habituelle Abneigung gegenüber harten Entscheidungen aller Art nicht wirklich hilfreich sein, ganz im Gegenteil.

      Denn diese Weinerlichkeit ist gleichzeitig das Fundament einer politischen Kultur, die auf jede Wehklage mit einer gut gemeinten, aber in vielen Fällen schlecht endenden staatlichen Intervention schließt. Wird laut genug darüber geklagt, dass unterqualifizierte Menschen am Arbeitsmarkt nicht ausreichend entlohnt werden, muss ein gesetzlicher Mindestlohn her, der leider vor allem die Arbeitslosigkeit Minderqualifizierter

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