Schweigen ist meine Muttersprache. Sulaiman Addonia
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Sie suchte Zuflucht in der Hütte. Hagos hatte sich auf einer Seite der Decke zusammengerollt. Saba stieg über ihn hinweg und zwängte sich in den schmalen Spalt neben der aus Dung gemauerten Wand. Ihr Gesicht lag neben Hagos’ Füßen. Kleine Steinchen stachen durch die dünne Decke. Saba kuschelte sich zwischen die gewölbte Wand und den zusammengekauerten Hagos.
Die Moschee im Sand
Mit geschlossenen Augen lag Saba auf der Decke und berührte sich, wie sie es zu Hause immer getan hatte in jenen Augenblicken vor Anbruch der Morgendämmerung, wenn ihr Körper ihr gehörte.
Doch an jenem ersten Morgen im Lager, die Brust über dem Boden gewölbt, straff wie ein Tautropfen auf einem Blatt, hörte sie ihre Mutter im Schlaf murmeln. Sabas lustvolles Stöhnen erstarb hinter ihren zusammengepressten Zähnen. Sie setzte sich auf und rückte von Hagos weg. Ein trockener Zweig in der Lehmmauer kratzte über ihr Bein. Sie schlug mit der Faust gegen die Wand.
Ihr Zimmer zu Hause ging auf den Garten eines Innenhofes mit Steinfußboden und Terrakottatöpfen voller Kräuter. Das Zimmer hatte sie von ihrer Großmutter übernommen. Hier hatte sich ihre Großmutter in den Nachbarn verliebt und ihm ihre Liebessehnsucht dadurch bekundet, dass sie Blumen an der Mauer pflanzte, die sie von ihm trennte. Sie war elternlos aufgewachsen, hatte sich aber das Lesen und Schreiben selbst beigebracht. Noch keine zwanzig Jahre alt, gründete sie ein Geschäft und reiste von einem Land ins andere, von einem Liebhaber zum nächsten. Ihr langes Leben verdankte sie dem Honigwein Tej, dem Khat und dem Sex.
An der Wand über ihrem Bett hatte Saba das Foto ihrer Großmutter aufgehängt und ansonsten ihr Zimmer mit Bildern aus dem Atelier des Landbesitzers geschmückt, bei dem ihre Mutter als Dienstmagd arbeitete. Dieser Mann war mit den Träumen seiner Heimatstadt als Student nach Europa gegangen, hatte sich dort aber mit einem Kunsthochschuldiplom nur seinen eigenen Traum erfüllt, bevor er zurückkehrte. Er hatte sich zu Sabas und Hagos’ Patenonkel erklärt. Eines der Fotos, die Saba aus seinem Atelier mit nach Hause genommen hatte, zeigte eine junge Frau mit einer Kalaschnikow über der Schulter. Hinter der Freiheitskämpferin war durch einen Kunstgriff des Fotografen die Hauptstraße von Asmara zu sehen, die in der jüngeren Vergangenheit drei Mal umbenannt worden war – von Viale Mussolini in Queen Victoria Avenue und dann in Kaiser-Haile-Selassie-Straße – und die jetzt, unter der Militärdiktatur des Derg, Nationalstraße hieß. Vor dem Hintergrund dieser vielfach bezwungenen Straße stand die Kämpferin so unerschütterlich und fest verwurzelt wie die Palmen, die den breiten Boulevard säumten. Saba studierte diese Pose ein, um sie in ihrer an der Grenze gelegenen Stadt vorzuführen.
Neben der Kämpferin hing die Kopie eines Gemäldes an der Wand, das ihr der Landbesitzer geschenkt hatte. Die helle Haut einer nackten Frau, die irgendwo in Paris ein Bad nimmt, schimmerte selbst dann noch, wenn Saba vor dem Schlafengehen das Licht herunterdrehte.
Bücher bedeckten den Fußboden und Sabas Bett. Geschichtsbücher in Tigrinisch, amharische Übersetzungen russischer Romane, Gedichte auf Arabisch. Bleistifte. Kugelschreiber. Radiergummis. Politik. Kunst. Freiheit. Afrika. Europa. Und Saba. All das wetteiferte um einen Platz in ihrem kleinen, unordentlichen Zimmer.
Die Erkenntnis, wo sie sich jetzt befand, holte sie aus ihren Träumereien. Sie spürte die dicken Lehmwände um sich herum und begrub das Gesicht in ihren Händen. Sie setzte sich auf die Knie. Der erdige Geruch der Büsche vor dem Fenster vermischte sich mit der dunggeschwängerten Morgenluft. Sie hob die Finger an ihr Gesicht und sog den Duft ihrer Schenkel ein.
Taumelnd trat sie aus der Hütte. Orangerote Lichtstreifen, wie Kamelhöcker gekrümmt, erschienen am Horizont. Sie hörte Schritte, die über den sandigen Boden schlurften. Aus einer schmalen Gasse tauchte ein Mann auf. Mitten auf dem Platz blieb er stehen und stellte seine Öllampe neben sich auf den Boden, sodass ein strahlender Lichtkreis um seine Füße entstand. Er rief zum ersten Gebet des Tages.
Niemand reagierte. Er wartete mit verschränkten Armen. Staub lag auf seinen Sandalen. Ohne seinen Turban, seinen gabi und seinen Teppich, ohne ein Minarett, eine Kuppel, vier Wände und eine Gebetsrichtung, dachte Saba, ruht die Autorität des Imams allein in der schmalen, langen Silhouette seines Schattens auf der nackten Erde des Lagers.
Er rief zum Gebet, immer und immer wieder. Seine Stimme wurde heiser. Keine Antwort. Schließlich verstummte er. Er stampfte mit dem Fuß auf, zog den Fuß durch den Sand und markierte auf diese Weise den Grundriss eines Gebetsraums. Dann hielt er inne und schaute zurück. Die schwachen Linien hinter ihm im Sand verblassten, als er sich mit seiner Öllampe in der Hand wieder in Bewegung setzte. Er kehrte zum Ausgangspunkt zurück und begann von vorne. Ein abgehärteter Kämpfer, der sich selbst dann nicht geschlagen gibt, wenn er keine Waffen mehr hat. Dieser Gedanke schoss Saba durch den Kopf, während sie auf ihn zuging, in seine Spuren trat und ihren Fuß hinter ihm noch fester und tiefer in den Sand grub, um der menschlichen Präsenz in dieser Wildnis Nachdruck zu verleihen.
Der Imam hob seine Lampe. Sabas Gesicht leuchtete auf wie eine Antwort auf sein Lächeln. Er räusperte sich. Seine Stimme kehrte zurück.
Das müsste reichen, sagte er nach einer Weile. Aber wenn nötig, können wir die Fläche erweitern. Es ist schließlich nur eine Linie im Sand.
Wo ist die Gebetsrichtung?, fragte Saba.
Der Imam hob die Hand mit der Öllampe hoch zum Himmel. Lichtstrahlen flossen von seinem Arm. Gott ist überall, sagte er.
Die Moschee im Sand war fertig. Leichtfüßig lief Saba zu ihrer Hütte zurück, als hätte sie am Bau einer richtigen Moschee mitgewirkt, die ihr eigenes irdisches Leben überdauern würde. Doch der Gedanke ließ sie erschaudern. Was, wenn das Leben im Lager am Ende nur so beständig war wie diese Spur im Sand?
Der Imam betete allein. Seine Dschallabija flatterte in der Brise, der weiße Stoff hob sich aus der Dunkelheit hervor. Saba griff nach ihrer Taschenlampe und machte sich auf die Suche nach einer Schule im Lager. Als ihre Mutter den Entschluss gefasst hatte, mit ihren Kindern zu fliehen, hatte Saba wissen wollen, ob es auf der anderen Seite der Grenze eine Schule gab. Ihre Mutter hatte einen Schuh nach ihr geworfen. Unsere Nachbarn sind getötet worden, sagte sie. Wir verlassen unser Zuhause, und du hast nur die Schule im Kopf.
Eine Cousine, die gekommen war, um sich zu verabschieden, nahm Saba beiseite. Du musst geduldig sein und den richtigen Zeitpunkt für deine Fragen wählen. Aber hab keine Sorge, ihr geht in das größte Land Afrikas. Und dort gibt es sehr viele gebildete und kluge Leute.
Nicht einmal der Krieg also würde Saba an der Verwirklichung ihres Traums hindern, sondern sie über Umwege ans Ziel bringen. Wie der Nil würde sie Hügel, Berge und Wälder überwinden und einen Weg finden, viele Länder zu durchqueren.
Die Gassen des Lagers waren ein Labyrinth, in dem sie sich verirren konnte. Saba tauchte ein in die Dunkelheit. Sie stolperte über Stroh, das neben Holz, Zweigen und Schnüren nutzlos herumlag. Die Erbauer des Lagers mussten es eilig gehabt haben, von hier wegzukommen, dachte sie. Saba stieg über achtlos weggeworfenen Müll und bog nach links in eine andere Gasse ein. Türen waren geschlossen. Die vertrauten morgendlichen Geräusche fehlten. Es gab keine Hähne, die den Tagesanbruch ankündigten. Kein Aroma frisch gerösteter Kaffeebohnen lag in der Luft. Kein Hauch von mit Ghee vermischtem Berbere, von Aftershave und Duftessenzen. Es war ein anderer