Vom Kriminellen zum Kriminalisten. Siegfried Schwarz
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Die neue Realität hatte ihn eingeholt. In der englischen Gefangenschaft hatte er von der Erwartung gelebt, nach Hause zurückzukommen, zu Frau und Kindern. Jetzt war er in einer fremden Stadt, in einer Dachmansarde, in einem Hinterhaus und besaß nichts als die englische Uniform. Seine Familie ernährte sich durch Diebstähle oder hungerte und fror. Sein Ideal, für das er in den Kampf gezogen war, lag zerstört am Boden. Hatte er dafür am Polenfeldzug teilgenommen, damit seine Kinder in einer fremden Stadt als Flüchtlinge aufwuchsen? Hatte er dafür darauf verzichtet, seine Söhne aufwachsen zu sehen, damit er nun in einer schlecht beheizbaren Dachwohnung hauste? Viel später verstand ich, in welch ein tiefes Loch mein Vater zu diesem Zeitpunkt gefallen sein musste. Er liebte die Natur, hatte immer auf dem Lande gelebt. Nun hockte er in einer für ihn fremden Stadt.
Doch mein Vater fing sich und startete sein Leben neu. Der Rat der Stadt vermittelte ihm eine Arbeit in einer Papierfabrik außerhalb von Mittweida. Lange blieb er dort nicht. Ein Onkel mütterlicherseits besuchte uns mit einer Neuigkeit, die meinem Vater keine Ruhe ließ: In der Sowjetischen Aktiengesellschaft (SAG) der Buna-Werke in Schkopau sollte es gutbezahlte Arbeit geben. Und nicht nur das! Zusätzlich würde jeder Arbeiter monatlich mit dem sogenannten Stalinpaket versorgt. Es beinhaltete Lebensmittel wie Salz, Zucker, Mehl und Fleisch.
Nur wenige Tage später verließ uns mein Vater in Richtung Schkopau. In einem Barackenlager wohnte er jetzt, in dem schon zu Kriegszeiten Arbeitskräfte untergebracht gewesen waren. Dort besuchte ich ihn öfters. Ich erinnere mich, wie ich im Metalldoppelstockbett über ihm schlief. Bei Vater gab es leckeren Kartoffelbrei. Dazu holten wir uns auf nicht ganz legalem Wege Kartoffeln von einem Feld neben den Buna-Werken. Vater kochte sie in einem Aluminiumtopf. Dann briet er Zwiebeln in Rapsöl und vermengte alles zu einem köstlichen Brei.
Vater arbeitete also ab 1948 in den Buna-Werken, und Mutter verdiente in einer Großwäscherei in Mittweida Geld für unseren Lebensunterhalt. Einmal im Monat trafen sich beide in Leipzig auf dem Hauptbahnhof. Dann übergab Vater das »Stalinpaket« für seine Familie, und Mutter kehrte mit der Bahn wieder heim.
Mittlerweile kamen wir ganz gut ohne ständiges Stehlen meinerseits zurecht. Außerdem betonte mein Vater, dass er keinen Dieb als Sohn haben wollte, und zeigte dabei auch auf, welche Strafen er für Stehlen als richtig erachtete. All das überzeugte mich, dass ich mich von meiner Gang besser fernhalten und meine kriminelle Karriere aufgeben sollte. Doch da ich außer Stehlen bisher keine Hobbys gehabt hatte, musste ich mir für meine Freizeit etwas Neues suchen. Fußball hielt ich für eine gute Idee. In einer gemischten Kinder- und Jugendfußballmannschaft erprobte ich mein Talent auf dem Rasen. Schon zu Beginn des Jahres 1949 gab ich jedoch meine Fußballkarriere auf.
II
Boxen: Start in ein neues Leben · Matrose in Kühlungsborn · Grundausbildung · Boxer statt Matrose · Versetzung nach Wolgast
In Mittweida gab es eine Boxmannschaft. Einen der Boxer kannte ich näher. Als er mir erzählte, dass nach jedem Kampf im Schützenhaus in Mittweida für die Heim- und Gästemannschaft ein gemeinsames Pferdegulaschessen stattfindet, meldete ich mich beim Boxtrainer. Nun hatte ich etwas gefunden, das mir gefiel. Der Eintritt in die Welt des Boxsports sollte einige Jahre später wichtige Entscheidungen in meinem Leben bewirken. Der Trainer arbeitete mit mir individuell. Schon wenige Wochen nach Beginn meines Trainings durfte ich meinen ersten öffentlichen Kampf in Geringswalde als Fliegengewichtler bestreiten. Ich hatte einundfünfzig Kilogramm Kampfgewicht.
Im September 1949 war mit der Schule endgültig für mich Schluss. In Erlau, unweit von Mittweida, begann ich eine Lehre als Graugussformer. Die Stelle in der Eisengießerei und Maschinenfabrik Erlau hatte mir ein ehemaliges Mitglied unserer Gang vermittelt. Lange sollte ich dort nicht bleiben.
Vater hatte in den Buna-Werken Fuß gefasst und konnte gute Arbeitsleistungen vorweisen. Man wollte ihn als Arbeiter behalten. Daher bekam er das Angebot, eine Zweieinhalbzimmerwohnung in Merseburg, etwa sechs Kilometer von Schkopau entfernt, beziehen zu können. Natürlich mit seiner Familie.
Zur Jahreswende 1950/51 holte uns der Vater nach Merseburg. Graugussformer konnte ich dort nicht weiterlernen. Stattdessen fand ich Platz in der kleinen Abteilung Buntmetallgießerei der Buna-Werke. Doch auch damit hatte ich kein Glück. Nach nur sechs Monaten wurde dieser Betriebsteil stillgelegt. Man schob mich in eine Stahlgießerei in Frankleben, Kreis Merseburg. Wenig später, im September 1951, endete auch dort mein »Gießerei-Kapitel«.
Nach meinem Umzug nach Merseburg habe ich sofort Kontakt zur Boxmannschaft »Stahl Merseburg« aufgenommen. Die Aufnahme als Mitglied war reine Formsache. Als unsere Boxstaffel die Buna-Werke als Sponsor bekam, reisten wir zu Kämpfen quer durch die DDR. Einmal hatten wir Gäste »aus dem Westen«. Die Boxstaffel aus Essel-Recklinghausen trat gegen uns an. Mein Gegner hieß Auth. Wir führten einen harten Kampf, der mit einem Unentschieden endete. Zur damaligen Zeit war es noch üblich, Vergleichskämpfe mit westdeutschen Mannschaften durchzuführen.
Ende November 1952, draußen war es frostig, trat mein Boxerfreund Rudi in einer Pause an mich heran und flüsterte mir ins Ohr, dass er Merseburg verlassen wolle. Die Marine in Kühlungsborn werbe Mitglieder, und er werde bald dorthin gehen, um Matrose zu werden. Darüber hatte er bisher kein Wort verloren. Vielleicht hatte ihm unser Aufenthalt an der Ostsee während eines Trainingslagers so gut gefallen. Wir hatten 1951 mehrere Boxveranstaltungen an den Küstenorten durchgeführt, unter anderem in Kühlungsborn.
Rudis Idee ließ auch mir jetzt keine Ruhe mehr. Aufs Meer hinausfahren, Matrose sein, Seeluft schnuppern … »Was muss ich machen, damit wir zusammen zur Marine kommen?«, fragte ich ihn unverhohlen und hatte im Stillen schon einen Entschluss gefasst.
»Du musst dich beim Wehrkreiskommando melden, in Merseburg. Die warten dort nur auf Freiwillige wie dich!« – Gleich in den nächsten Tagen setzte ich meinen Entschluss um und bewarb mich an besagter Stelle. Ohne weitere Fragen nahm man meine Bewerbung an. Dass schon an dieser Stelle ein bürokratischer Fehler begangen wurde, sollte ich zu Beginn des neuen Jahres zu spüren bekommen.
Am 2. Januar 1953 fuhren wir Freiwilligen mit der Eisenbahn zuerst nach Rostock und danach mit der Kleinbahn nach Kühlungsborn. Mein Reisegepäck bestand lediglich aus meinem Boxkoffer, in dem ein wenig Wechselkleidung verstaut war. In Kühlungsborn-West angekommen, wurden wir in neu errichtete massive Baracken einquartiert. Diese standen nur wenige Meter vom Strand entfernt. Die Dienststellenleitung Volkspolizei-See (VP-See) war in einem Klinkerbau untergebracht. Vor diesem befand sich ein Appellplatz, daran schloss sich ein großer Speisesaal an. Diese Gebäude waren schon in der Nazizeit als Bestandteil militärischer Ausbildung errichtet worden.
Von Rudi wurde ich gleich nach unserer Ankunft getrennt. Er kam in einen anderen Ausbildungszug. Ein Zug bestand aus dreißig Mann. Damals war es noch üblich, dass alle Männer eines Zuges in einem Schlafsaal, der mit Doppelstockbetten ausgestattet war, untergebracht wurden. In einem zweiten Raum befand sich eine Vielzahl von Schränken. Jedem Matrosen stand eine Schrankhälfte zu.
Kurz nach unserer Ankunft hatte man unsere Personalien aufgenommen. Später stand uns die Einkleidung bevor. Dazu begaben wir uns zugweise in den Warteraum, wo wir einzeln aufgerufen wurden. Der Warteraum leerte sich. Matrose um Matrose verschwand und kehrte mit einem prall gefüllten Seesack zurück. Nur ich blieb sitzen. Ich wartete. Nachdem auch der neunundzwanzigste Auszubildende mit seinem Seesack an mir vorbei ins Quartier gegangen war, erwartete ich nun endlich meine Matrosenkleidung. Doch statt zur Einkleidung wurde ich zum Kompaniechef gerufen. Der Mann, ein »Omar-Sharif-Typ«, sah mich streng an. Kaum dass ich eingetreten war. In einem klaren Hochdeutsch und frei von jedem Ostseedialekt erklärte er mir, dass ich wieder nach Hause fahren müsse. »Schwarz, schon in Merseburg hat man einen Fehler