Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte II. Edmund Husserl

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Phänomenologie der Lebenswelt. Ausgewählte Texte II - Edmund Husserl Reclams Universal-Bibliothek

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Erfüllung der Intention vollzieht sich durch leibhaftes Darstellen, freilich mit leeren Innenhorizonten. Aber ist an dem schon leibhaft Gewordenen gar nichts, was Endgültigkeit mit sich führt, so dass wir in der Tat in einem wie es scheint leeren Wechselgeschäft steckenbleiben?

      Wir fühlen, dass es so nicht sein kann, und in der Tat stoßen wir, uns in das Wesen der Wahrnehmungsreihen tiefer hineinschauend, auf eine Eigentümlichkeit, die dazu berufen ist, zunächst für die Praxis und ihre anschauliche sinnliche Welt die [23] Schwierigkeit zu lösen. Im Wesen der eigentlichen Erscheinungen als Erfüllungen vorgezeichneter Intentionen liegt es, dass sie auch bei unvollkommener, also mit Vorweisungen behafteter Erfüllung auf ideale Grenzen als Erfüllungsziele vordeuten, die durch stetige Erfüllungsreihen zu erreichen wären. Das aber nicht gleich für den ganzen Gegenstand, sondern für die jeweils schon zu wirklicher Anschauung gekommenen Merkmale. Jede Erscheinung gehört hinsichtlich dessen, was in ihr eigentliche Darstellung ist, systematisch irgendwelchen in kinästhetischer Freiheit zu realisierenden Erscheinungsreihen an, in denen mindestens irgendein Moment der Gestalten seine optimale Gegebenheit und damit sein wahres Selbst erreichen würde.

      Als Grundgerüst des Wahrnehmungsgegenstandes fungiert das Phantom als sinnlich qualifizierte körperliche Oberfläche. Dieselbe kann in kontinuierlich vielfältigen Erscheinungen sich darstellen, und ebenso jede sich abhebende Teilfläche. Für jede haben wir Fernerscheinungen [33]und Naherscheinungen. Und wieder innerhalb jeder dieser Sphären ungünstigere und günstigere, und in geordneten Reihen kommen wir auf Optima. So weist schon die Fernerscheinung eines Dinges und eine Mannigfaltigkeit von Fernerscheinungen auf Naherscheinungen zurück, in denen die oberflächliche Gestalt und ihre Fülle im Gesamtüberblick am besten erscheint. Diese selbst, die wir etwa für ein Haus durch Betrachtung von einem gut gewählten Standpunkt haben, gibt dann einen Rahmen für Einzeichnungen von weiteren optimalen Bestimmungen, die ein Nähertreten, in dem nur einzelne Teile, aber dann optimal gegeben wären, 〈beibringen würde〉. Das Ding selbst in seiner gesättigten Fülle ist eine im Bewusstseinssinn und in der Weise seiner intentionalen Strukturen angelegte Idee, und zwar gewissermaßen ein S〈ystem〉 aller Optima, die durch Einzeichnung in die optimalen Rahmen gewonnen würden. Das thematische Interesse, das in Wahrnehmungen sich auslebt, ist in unserem wissenschaftlichen Leben von praktischen Interessen geleitet, und das beruhigt sich, wenn gewisse für das jeweilige Interesse optimale Erscheinungen gewonnen sind, in denen das Ding so viel von seinem letzten Selbst zeigt, als dieses praktische Interesse fordert. Oder vielmehr es zeichnet als praktisches Interesse ein relatives Selbst vor: Das, was praktisch genügt, gilt als das Selbst. So ist das Haus selbst und in seinem wahren Sein, und [24] zwar hinsichtlich seiner puren körperlichen Dinglichkeit, sehr bald optimal gegeben, also vollkommen erfahren von dem, der es als Käufer oder Verkäufer betrachtet. Für den Physiker und Chemiker erschiene solche Erfahrungsweise völlig oberflächlich und vom wahren Sein noch himmelfern.

      [34]Nur mit einem Wort sagen kann ich, dass alle solchen höchst verzweigten und an sich schwierigen intentionalen Analysen ihrerseits hineingehören in eine universale Genesis des Bewusstseins und hier speziell des Bewusstseins einer transzendenten Wirklichkeit. Ist das Thema der konstitutiven Analysen dies, aus der eigenen intentionalen Konstitution der Wahrnehmung, nach reellen Bestandstücken des Erlebnisses selbst, nach intentionalem Noema und Sinn die Weise verständlich zu machen, wie Wahrnehmung ihre Sinngebung zustande bringen und wie durch alle leere Vermeintheit hindurch sich der Gegenstand als sich immer nur relativ darstellender optimaler Erscheinungssinn konstituiert, so ist es das Thema der genetischen Analysen, verständlich zu machen, wie in der zum Wesen jedes Bewusstseinsstromes gehörigen Entwicklung, die zugleich Ichentwicklung ist, sich jene komplizierten intentionalen Systeme entwickeln, durch die schließlich dem Bewusstsein und Ich eine äußere Welt erscheinen kann.

      [35]Phänomenologie des inneren Zeitbewusstseins4

      [368] Einleitung

      Die Analyse des Zeitbewusstseins ist ein uraltes Kreuz der deskriptiven Psychologie und der Erkenntnistheorie. Der erste, der die gewaltigen Schwierigkeiten, die hier liegen, tief empfunden und sich daran fast bis zur Verzweiflung abgemüht hat, war Augustinus. Die Kapitel 13–28 des XI. Buches der Confessiones muss auch heute noch jedermann gründlich studieren, der sich mit dem Zeitproblem beschäftigt. Denn herrlich weit gebracht und erheblich weiter gebracht als dieser große und ernst ringende Denker hat es die wissensstolze Neuzeit in diesen Dingen nicht. Noch heute mag man mit Augustinus sagen: si nemo a me quaerat, scio, si quaerenti explicare velim, nescio.5

      Natürlich, was Zeit ist, wissen wir alle; sie ist das Allerbekannteste. Sobald wir aber den Versuch machen, uns über das Zeitbewusstsein Rechenschaft zu geben, objektive Zeit und subjektives Zeitbewusstsein in das rechte Verhältnis zu setzen und uns zum Verständnis zu bringen, wie sich zeitliche Objektivität, also individuelle Objektivität überhaupt, im subjektiven Zeitbewusstsein konstituieren kann, ja sowie wir auch nur den Versuch machen, das rein subjektive Zeitbewusstsein, den phänomenologischen Gehalt der Zeiterlebnisse einer Analyse zu unterziehen, verwickeln wir uns in die sonderbarsten Schwierigkeiten, Widersprüche, Verworrenheiten. […]

      [36][369] 1. Ausschaltung der objektiven Zeit

      Einige allgemeine Bemerkungen müssen noch vorausgeschickt werden. Unser Absehen geht auf eine phänomenologische Analyse des Zeitbewusstseins. Darin liegt, wie bei jeder solchen Analyse, der völlige Ausschluss jedweder Annahmen, Festsetzungen, Überzeugungen in Betreff der objektiven Zeit (aller transzendierenden Voraussetzungen von Existierendem). In objektiver Hinsicht mag jedes Erlebnis, wie jedes reale Sein und Seinsmoment, seine Stelle in der einen einzigen objektiven Zeit haben – somit auch das Erlebnis der Zeitwahrnehmung und Zeitvorstellung selbst. Es mag sich jemand dafür interessieren, die objektive Zeit eines Erlebnisses, darunter eines zeitkonstituierenden, zu bestimmen. Es mag ferner eine interessante Untersuchung sein, festzustellen, wie die Zeit, die in einem Zeitbewusstsein als objektive gesetzt ist, sich zur wirklichen objektiven Zeit verhalte, ob die Schätzungen von Zeitintervallen den objektiv wirklichen Zeitintervallen entsprechen, oder wie sie von ihnen abweichen. Aber das sind keine Aufgaben der Phänomenologie. So wie das wirkliche Ding, die wirkliche Welt kein phänomenologisches Datum ist, so ist es auch nicht die Weltzeit, die reale Zeit, die Zeit der Natur im Sinne der Naturwissenschaft und auch der Psychologie als Naturwissenschaft des Seelischen.

      Nun mag es allerdings scheinen, wenn wir von Analyse des Zeitbewusstseins, von dem Zeitcharakter der Gegenstände der Wahrnehmung, Erinnerung, Erwartung sprechen, als ob wir den objektiven Zeitverlauf schon annähmen und dann im Grunde nur die subjektiven Bedingungen der Möglichkeit einer Zeitanschauung und einer [37]eigentlichen Zeiterkenntnis studierten. Was wir aber hinnehmen, ist nicht die Existenz einer Weltzeit, die Existenz einer dinglichen Dauer u. dgl., sondern erscheinende Zeit, erscheinende Dauer als solche. Das aber sind absolute Gegebenheiten, deren Bezweiflung sinnlos wäre. Sodann nehmen wir allerdings auch eine seiende Zeit an, das ist aber nicht die Zeit der Erfahrungswelt, sondern die immanente Zeit des Bewusstseinsverlaufes. Dass das Bewusstsein eines Tonvorgangs, einer Melodie, die ich eben höre, ein Nacheinander aufweist, dafür haben wir eine Evidenz, die jeden Zweifel und jede Leugnung sinnlos erscheinen lässt.

      [370] Was die Ausschaltung der objektiven Zeit besagt, das wird vielleicht noch deutlicher, wenn wir die Parallele für den Raum durchführen, da ja Raum und Zeit so vielbeachtete und bedeutsame Analogien aufweisen. In die Sphäre des phänomenologisch Gegebenen gehört das Raumbewusstsein, d. h. das Erlebnis, in dem »Raumanschauung« als Wahrnehmung und Phantasie sich vollzieht. Öffnen wir die Augen, so sehen wir in den objektiven Raum hinein – das heißt (wie die reflektierende Betrachtung zeigt): wir haben visuelle Empfindungsinhalte, die eine Raumerscheinung fundieren, eine Erscheinung von so und so gelagerten Dingen. Abstrahieren wir von aller transzendierenden Deutung und reduzieren die Wahrnehmungserscheinung auf die gegebenen primären Inhalte, so ergeben sie das Kontinuum des Gesichtsfeldes, das ein quasi-räumliches ist, aber nicht etwa Raum oder eine Fläche im Raum: roh gesprochen ist es eine zweifache kontinuierliche Mannigfaltigkeit.

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