Kindheit am Rande der Verzweiflung. Bernd Siggelkow
Чтение книги онлайн.
Читать онлайн книгу Kindheit am Rande der Verzweiflung - Bernd Siggelkow страница 2
4 500 Kinder, die dann ab sofort nicht mehr kostenlos zu Mittag essen können, keine Hausaufgabenhilfe, keine musikalischen und sportlichen Veranstaltungen mehr, keine liebevollen Umarmungen bekommen, all das, was unsere Kinder doch so sehr brauchen. Meine Gedanken spielen verrückt. Ich möchte „unsere“ Menschen nicht alleinlassen.
Es ist Freitagvormittag und die Schließung der Einrichtungen unumgänglich. Die Bundesregierung teilt den vollkommenen Shutdown mit und kündigt die Schließung aller Schulen und Kindertageseinrichtungen für den folgenden Dienstag an. Schweren Herzens übermittle ich all meinen 27 Einrichtungsleiter*innen, dass wir noch bis Mittwoch die Einrichtungen offen lassen, auch mit dem Risiko, dass wir Ärger bekommen.
Innerhalb weniger Stunden erarbeiten wir einen Plan B, denn Deutschlands vergessene Kinder dürfen jetzt nicht auch noch von ihrer Arche vergessen werden.
Eins ist in diesem Moment klar: Viele Familien werden durch diesen Beschluss an den Rand ihrer Existenz gedrängt. Gerade in Berlin, wo fast alle Kinder kostenlos in der Schule und in den Archen essen, werden erhebliche finanzielle Belastungen auf unsere Hartz 4-Familien zukommen. Kein Schulbetrieb bedeutet automatisch, dass wichtige soziale Kontakte fehlen werden und zudem viele Familien auf engstem Raum zusammenleben müssen. Probleme sind dadurch vorprogrammiert. Zum ersten Mal nach 25 Jahren Arbeit in sozialen Brennpunkten muss ich die wichtigste Anlaufstelle für unsere Familien schließen, was mir fast das Herz bricht.
In der Vergangenheit waren wir unseren Familien auch außerhalb der Öffnungszeit sehr nah. Hausbesuche, WhatsApp-Kontakte, Notruftelefone, die 24 Stunden erreichbar sind, haben über Jahre Vertrauen geschaffen und uns zu verlässlichen Ansprechpartnern gemacht.
Unsere erste Aufgabe ist jetzt zu ermitteln, ob wir alle Kinder während des Lockdowns telefonisch erreichen können und dies auch, wenn die SIM-Karte auf der anderen Seite kein Guthaben aufweist.
Wir haben noch vier Tage, um zu ermitteln, wie viele Kinder kein Smartphone haben. Da wo Bedarf ist, schauen wir, mit einem Handy aushelfen zu können. Kein Telefon bedeutet eben, nicht erreichbar zu sein. Schon oft mussten wir feststellen, dass unsere Kinder nicht nur simple Betreuung, sondern Freunde und Partner brauchen, die in allen Lebenssituationen erreichbar sind. Häufig sind die Arche-Mitarbeitenden der einzige „normale“ und unterstützende Kontakt. Nicht selten konnten wir mit und ohne Hilfe des Jugendamtes familiäre Situationen verbessern.
Außerdem bekommen die Kinder Hausaufgaben gestellt, die sie online machen sollen. Auch dazu bedarf es zumindest eines Handys.
Online sein zu können – ohne digitale Endgeräte? Ohne Drucker? Ohne Druckerpatronen? Ohne schnelles Internet? Das Mobiltelefon ist hier ein einfaches Hilfsmittel, aber besser als keines. Ein paar Tage später wird sich noch herausstellen, dass wir innerhalb kürzester Zeit fast 200 Smartphones organisieren mussten. Über die sozialen Medien und Sponsorenaufrufe haben wir es letztendlich geschafft, unsere Kids mit einem Handy zu versorgen. Erst später wurde uns bewusst, was allein die Erreichbarkeit ausmachte und wie viele Kinder tatsächlich das Mobiltelefon als einziges digitales Hilfsmittel für Schule und Recherche hatten.
Ein weiteres großes Problem stellt die Lebensmittelversorgung dar. Nicht nur Toilettenpapier und Desinfektionsmittel sind seit Tagen in den Supermärkten ausverkauft; auch die preiswerten Lebensmittel sind nicht mehr vorhanden. „Hamsterkäufe“ ist das neue Schlagwort und das in einer sogenannten Wohlstandsgesellschaft. In der Wohlstandsgesellschaft sind in der Regel die Kellerregale mit Vorräten prall gefüllt, bei den armen Familien dieser Gesellschaft wohl eher nicht. Eine angstmachende Situation, die häufig den Haussegen schief hängen lässt – leider haben das viele nicht verstanden.
Den meisten von uns wird bekannt sein, dass die von Kinderarmut bedrohte Gruppe in der Regel Großfamilien, Migrationsfamilien und Kinder von Alleinerziehenden sind. Sie haben einen erhöhten Bedarf an Lebensmitteln aufgrund der Haushaltsgröße. Sie haben aber am Ende des Monats auch das wenigste Geld in ihrem Geldbeutel. Die leer gefegten Supermarktregale treffen diese Bevölkerungsschicht am stärksten. Somit stehen schon Tage vor dem angekündigten Shutdown unsere Telefone nicht still. Die Frage nach Unterstützung hören wir häufig. Dazu kommt, dass mittlerweile Eltern, die mit mehr als zwei Kindern einkaufen gehen, in den Geschäften von Kunden und teilweise dem Personal beschimpft werden. Kinderreichtum als Makel. Viele Eltern gehen gar nicht mehr von Geschäft zu Geschäft, um Preise zu vergleichen, sondern kaufen eingeschüchtert lieber die teuren Dinge und sparen sich so weitere Demütigungen.
An diesem Freitag bin ich ununterbrochen dabei, Lösungsansätze zu finden, die wir deutschlandweit in den Archen umsetzen können. Wir möchten nicht zusehen, wie Menschen, die am Rand der Gesellschaft stehen, auf den Abgrund zusteuern. Wir übersetzen die den Lockdown betreffenden Regierungsbeschlüsse in ein verständliches Deutsch, das auch bildungsfernen Familien zugänglich ist. Auch Übersetzungen in andere Landessprachen sind vonnöten, da viele Familien mit Fluchterfahrung völlig verängstigt und desorientiert sind.
Am Abend steht das Programm für eine „virtuelle Arche“, die neben digitaler schulischer Hilfe auch ein Programm zur Beschäftigung unserer täglichen Besucher schafft, die ja jetzt nicht mehr in unsere Häuser kommen können. Telefon- und Broadcastlisten mit den Kontaktdaten von Eltern und Kindern sind eingerichtet. Alle sind erreichbar und können bei der Stange gehalten werden, denn bei vielen Personen treten bereits Ängste und auch Depressionen auf.
Aber auch unsere Vorratslager in den einzelnen Archen müssen mit Lebensmitteln gefüllt werden, damit wir jedem die Unterstützung zukommen lassen können, die dringend benötigt wird. Die nächsten Wochen werden nicht einfach, denn mehr als 6 000 Menschen werden unser Hilfsangebot nutzen. Eltern, mit denen wir erst seit kurzer Zeit in Kontakt stehen, fassen aufgrund unserer Hilfsangebote schnell Vertrauen. Einige sind unverschuldet in Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit geraten.
Die Schulen und Geschäfte schließen, Ausgang ist nur in besonderen Fällen erlaubt. Das Hilfesystem kollabiert. Nur noch wenige Jugendämter sind erreichbar. Notfalltelefone sind meist besetzt, die Lage spitzt sich zu. „Die Tafel“ stellt über Nacht überall ihren Betrieb ein. Die Menschen bleiben zu Hause. Die Ortschaften gleichen Geisterstädten.
Schnell ist ein neuer Begriff kreiert: systemrelevant. Ja, das sind wir auch. Alle Arche-Mitarbeitenden bekommen ein Schriftstück an die Hand, in dem ihre Systemrelevanz bestätigt wird. Sie können sich so frei bewegen. Frei, um Menschen zu helfen, die jetzt hinter ihren Wohnungstüren zu vereinsamen drohen. Doch „systemrelevant“ ist mir zu wenig. Wir sind ja nebenbei auch noch „beziehungsrelevant“, denn gerade in der Zeit, in der das Sozialsystem komplett heruntergefahren wird, braucht es Beziehungspartner. Beziehung zu Menschen halten, die sich vom System verlassen fühlen, die der Politik verdrossen sind, weil Politiker ihre Sprache nicht sprechen, die Angst vorm Jugendamt haben, da sie der Meinung sind, dort schnell als Versager abgestempelt zu werden. Menschen, die Hilfe suchen und immer erst ihre Bedürftigkeit nachweisen müssen, bevor überhaupt jemand mit ihnen redet. Eltern, Jugendliche, Kinder, die ihre Perspektive und ihr Selbstwertgefühl verloren haben und in der Gesellschaft häufig als Schmarotzer und asozial bezeichnet werden, brauchen keine neuen Formulare. Vielmehr brauchen sie Partner, die sie begleiten, stärken und ihnen Perspektive und Würde vermitteln.
Bereits am zweiten Tag des Lockdowns habe ich gemeinsam mit meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern insgesamt 1 630 Familien besucht, um ihnen Lebensmittel und moralische Unterstützung zu bringen. Es waren Begegnungen vor der Wohnungstür mit 1,5 Meter Abstand zueinander und vielen Tränen. Die Kinder, die sich auf unseren Besuch zu Hause freuten, durften uns nicht einmal zur Begrüßung die Hand geben. Kinder, die dies brauchen, da in ihrem Leben schon so viel kaputt gemacht wurde. Oft standen wir neben ihnen, doch nicht um zu trösten, sondern manchmal, um mitzuweinen.