Konstruktive Rhetorik in Seminar, Hörsaal und online. Jürg Häusermann
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Mitspieler Nummer 3, der Veranstalter, hatte zugeschlagen. In seiner Macht steht es, den Rednern eine Plattform zur Verfügung zu stellen oder auch zu entziehen. Er hat auch die Macht, für den Inhalt der Reden in seinem Einflussbereich eigene Regeln zu formulieren. Für die TED-Vorträge existiert eine Liste, die angibt, welche Inhalte zulässig sind und welche nicht. Dies geht so weit, dass Behauptungen, die sich „außerhalb orthodoxen wissenschaftlichen Denkens“7 bewegen, der Zensur unterworfen werden.8 Aber auch für die Sprache gibt es Regeln. So ist zum Beispiel „unpräzises New-Age-Vokabular“ verboten.9 Es ist leicht denkbar, dass es da Rednerinnen und Redner schwer haben, die eine radikale politische oder philosophische Position vertreten.10
Im Fall von Hanauer kam es bald zu einem Kräftemessen zwischen TED und dem Redner, der immerhin finanzkräftige Partner hinter sich wusste. Er wehrte sich erfolgreich. TED gab klein bei, lud später Hanauer sogar erneut ein, um ihn dann sehr schmeichelhaft auf der TED-Website zu präsentieren.11
»Platzierung der Rede im Programm (im Kontrast mit anderen Reden)
»Regeln zur Form, von der Kleidung bis zum sprachlichen Ausdruck
»Festlegung inhaltlicher Grenzen
»Entscheidung über die Weiterverbreitung (Kontakt zur Presse, Internetauftritt, Aufnahme in Publikationen)
Die Regeln des Veranstalters müssen nicht, wie bei TED, schriftlich festgelegt12 sein; andernorts hält man sich mehr oder weniger unbewusst an traditionelle Formen. Wie der Pfarrer bei der Taufe spricht (in welcher Kleidung, welchen Worten, an welchem Platz in der Kirche, mit welchen Gesten usw.), ist in der Liturgie des Gottesdienstes festgeschrieben. Was im Parlament möglich ist und was nicht, schreibt die Geschäftsordnung vor. Aber auch wenn Jugendliche einen Debattierclub gründen, stellen sie ad hoc Regeln auf, die nicht sehr von den überlieferten Gebräuchen abweichen, obwohl sie es in der Hand hätten, völlig neuartige Formen auszuprobieren.
Ein autoritärer Rahmen
Alle diese Formen der Einflussnahme lassen einen wichtigen Grundton des Redens in der Öffentlichkeit erkennen: Es geschieht in einem Kontext der Autorität. Der Rollenunterschied zwischen Redner und Zuhörern fügt sich in ein Machtgefälle ein, in dem gewöhnlich der Veranstalter das Sagen hat. Wenn die Rednerin sich den Vorgaben des Veranstalters fügt, profitiert sie von dessen Macht. Wenn sie aber (wie Hanauer) Thesen vertritt, die den Interessen des Veranstalters widersprechen, oder formale Vorgaben unterläuft (wie es gelegentlich bei Oscar-Verleihungen zu beobachten ist), nimmt sie einen Machtkampf auf, den sie auch verlieren kann. Auf der anderen Seite ist der Erfolg von Reden oft gerade darauf zurückzuführen, dass der Redner oder die Rednerin in Maßen auf Distanz zum Veranstalter geht, mit dessen Regeln kokettiert oder sie explizit missachtet.
Ein Beispiel für den spielerischen Umgang mit den Regeln des Veranstalters: Bei der Gedenkveranstaltung im Deutschen Bundestag zum 25 Jahre zuvor erfolgten Fall der Mauer war Wolf Biermann eingeladen, ein Lied zu singen.
Er nutzte die Gelegenheit zu einer gesprochenen Einleitung über sein Verhältnis zu der Partei Die Linke, wurde vom Bundestagspräsidenten Norbert Lammert mit einem humorvollen Verweis auf die Geschäftsordnung unterbrochen, die ihm das verbiete, was er wiederum konterte: „Das Reden habe ich mir in der DDR nicht abgewöhnt und werde das hier schon gar nicht tun.“13
Zu berücksichtigen bleibt, dass institutionelle Vorgaben auch etwas Gutes haben. Auch wenn sie in vielen Fällen lächerlich oder veraltet wirken, erleichtern sie auch die Kommunikation. Sie unterstreichen die Funktion der betreffenden Person und verleihen ihr damit mehr Autorität. Zur rhetorischen Praxis gehört es, sich zu überlegen, inwieweit es möglich ist, von den Normen des Veranstalters zu profitieren, aber auch von ihnen abzuweichen, um nicht nur als Vertreter einer abstrakten Instanz, sondern auch als Individuum in den Dialog mit dem Publikum zu treten.
Der Raum der Begegnung wird wichtig
Weil sich eine einzelne Person an eine Gruppe von Menschen wendet, wird ein größerer Raum benötigt als im privaten Gespräch. Das bedeutet fast in jedem Fall, dass Redner und Publikum einige Meter Abstand brauchen. Die Innenarchitektur betont dies noch: Eine Rednertribüne, ein Lehrerpult oder eine Bühne sorgen für die Sicht- und Hörbarkeit. Stühle, Bänke, Sitzreihen richten die Zuhörenden auf die wichtigste Person im Raum aus. Viele Gebäudetypen sind im Hinblick auf öffentliche Reden geschaffen worden: Parlamentsgebäude, Gerichtssäle, Kirchen, Schulzimmer. Sie bestimmen, wo der Redner steht und wo die Zuhörer sitzen: Es gibt das Podium, die Kanzel, das Katheder. Diese Wörter allein lassen an bestimmte Arten des Redens denken: Podiumsredner, Kanzelwort, Kathederweisheit …
Aber auch in informellen Situationen ist es weithin üblich, dass die Rednerin sich vom Sitz erhebt und die Menschen, die sie hören sollen, im Stehen anspricht, auch wenn diese selbst sitzen. Indem sie aufsteht und einen besonderen Standort einnimmt, setzt sie ein Zeichen. Sie erhöht aber auch die Verständlichkeit und zeigt Respekt für die um sie Versammelten. Wer sitzen bleibt, gilt schnell als unhöflich, auch wenn es als Zeichen der Bescheidenheit oder der Originalität gemeint ist.
Einfluss auf die Sprechweise
Die Distanz zwischen Redner und Publikum beeinflusst die Art, wie mit der Stimme umgegangen wird. In hohen und weiten Räumen entsteht ein starker Hall – ein Effekt, der beim nicht-öffentlichen Gespräch in kurzer Distanz kaum eine Rolle spielt. Das führt zu mehr und längeren Pausen, die gebraucht werden, um die Stimme verhallen zu lassen. Deshalb hat sich eine redetypische Sprechweise entwickelt, mit gleichförmigem Rhythmus und vielen Betonungen. Man hat den Extremfall dieser Sprechweise von Festreden im Ohr. Ansätze dazu lassen sich auch in vielen Online-Vorträgen erkennen. Zwar würde das Mikrofon eine zurückhaltendere Sprechweise erlauben; aber das Bewusstsein für die öffentliche Situation beeinflusst dennoch mehr oder weniger stark die Art und Weise des Sprechens in der Online-Situation.
Einfluss auf die Körpersprache
Dass der Raum sich weitet, beeinflusst auch die Körpersprache. Vieles, was Rednerinnen und Redner intuitiv tun – wie sie sich bewegen, wie sie dastehen, welche Gesten sie ausführen –, ist durch die Distanz zum Publikum zu erklären, die zur traditionellen öffentlichen Rede gehört, auch wenn diese in vielen Fällen längst aufgehoben ist.
Honoré Daumier hat dies illustriert, als er Mitte des 19. Jahrhunderts Anwälte karikierte. Es war die französische Juli-Monarchie, eine Zeit der Skandale und sozialen Missstände. In der Serie Les gens de justice zeichnete er zwei Advokaten, die sich noch auf ihren Auftritt vorbereiten. Der eine ordnet seine Halsbinde, der andere schlüpft gerade in den Talar. Die Art ihres Gesprächs ist aus diesen privaten Handlungen, aus der Mimik, aber auch schon allein aus der Nähe der beiden Figuren erkenntlich. Sie werden gleich gegnerische Parteien vertreten; aber eigentlich sind sie Kumpel und vertrauen sich an, was sie wirklich von der Sache denken.