Die neue Medizin der Emotionen. David Servan-Schreiber
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• Tatsächlich zielt von den Medikamenten, die in den westlichen Ländern am häufigsten eingesetzt werden, die Mehrzahl auf die Behandlung von Störungen ab, die in unmittelbarem Zusammenhang mit Stress stehen: Antidepressiva, Beruhigungs- und Schlafmittel, Antacida bei Sodbrennen und Magengeschwüren, Mittel gegen Bluthochdruck und solche gegen einen zu hohen Cholesterinspiegel.3
• Laut einem Bericht des Observatoire national du médicament stehen die Franzosen seit etlichen Jahren weltweit mit an der Spitze, was die Einnahme von Antidepressiva und Tranquilizern betrifft.4 Einer von sieben Franzosen schluckt regelmäßig ein Psychopharmakon; damit steht Frankreich an der Spitze aller westlichen Länder. Der Verbrauch ist hier sogar um 40 Prozent höher als in den USA. Der Einsatz von Antidepressiva hat sich bei uns im Lauf der letzten zehn Jahre verdoppelt.5 Zudem zählen die Franzosen zu den größten Alkoholkonsumenten der Welt; nun ist aber Alkohol ebenfalls eine Methode, um mit Problemen von Stress und Depression zurechtzukommen.
Während diese Probleme also stetig zunehmen, stellen die Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks, die unter ihnen leiden, die Eckpfeiler der traditionellen medizinischen Behandlung von Gefühlen in Frage: die Psychoanalyse einerseits, die Verschreibung von Medikamenten andererseits. Laut einer Harvard-Studie aus dem Jahre 1997 bevorzugt die Mehrheit der Amerikaner so genannte alternative und komplementäre Methoden gegenüber Medikamenten oder einer traditionellen Analyse, um ihre Leiden zu lindern.6
Die Psychoanalyse verliert an Boden. Nachdem sie dreißig Jahre lang die Psychiatrie dominiert hatte, verliert sie in der Öffentlichkeit wie auch bei Spezialisten immer mehr an Glaubwürdigkeit, da sie es versäumt hat, einen Beweis ihrer Wirksamkeit zu erbringen.7 Jeder von uns kennt jemanden, der aus einer analytischen Behandlung großen Nutzen gezogen hat, doch wir kennen auch viele andere, die sich seit Jahren auf ihrer Couch hin und her wälzen. Da keine wissenschaftlichen und quantifizierbaren Kriterien existieren, ist es sehr schwierig, einem Patienten, der unter einer Depression oder Angstanfällen leidet, mit Genauigkeit zu sagen, wie hoch die Chancen sind, dass sich sein Zustand durch eine Psychoanalyse bessert. Da konventionelle Psychoanalytiker oft erklären, eine Behandlung könne mehr als ein halbes Jahr, wenn nicht sogar Jahre dauern, und da sie oft mehr kostet als ein neues Auto, versteht man die Zurückhaltung potenzieller Patienten. Zwar werden die grundlegenden Prinzipien dieser »Redekur« nicht wirklich in Frage gestellt, aber schließlich ist es ganz normal, dass jeder in einer solchen Situation nach Alternativen fragt.
Der andere Weg, der bei weitem am häufigsten eingeschlagen wird, ist der der neuen, als biologisch bezeichneten Psychiatrie: Sie arbeitet hauptsächlich mit Psychopharmaka, etwa Fluctin (Prozac), Zyprexa, Zoloft, Seroxat, Adumbran, Tavil, Tavor, Hypnotex und so weiter. In den Medien wie auch in der Welt der Literatur bleibt die Psychoanalyse das vorherrschende Bezugssystem, da sie ein auf alle menschlichen Phänomene anwendbares Interpretationsraster liefert, ob man nun davon überzeugt ist oder nicht. In der tagtäglichen medizinischen Praxis jedoch dominieren Psychopharmaka, wie der Bericht des Observatoire national du médicament zeigt, nahezu uneingeschränkt. Der Reflex, zum Rezeptblock zu greifen, ist mittlerweile derart verbreitet, dass eine Patientin, die bei ihrem Arzt in Tränen ausbricht, beinahe mit Sicherheit ein Antidepressivum verschrieben bekommt.
Psychopharmaka können unglaublich hilfreich und wirksam sein. Gelegentlich so wirksam, dass manche Autoren wie Peter Kramer in seinem Bestseller »Glück auf Rezept« eher von einer Umwandlung der Persönlichkeit als von einer schlichten Linderung der Symptome sprechen.8 Wie alle praktizierenden Ärzte meiner Generation setze auch ich sie häufig ein. Doch im Gegensatz zu Antibiotika, die Infektionen heilen, wirken, wie immer mehr Untersuchungen beweisen, psychiatrische Medikamente nicht mehr, sobald man die Behandlung damit abbricht. Aus diesem Grund wird die Mehrheit der Patienten, die solche Medikamente einnehmen, länger als ein Jahr behandelt, und eine große Zahl erleidet nach Absetzen der Medikamente einen Rückfall.9 So hat beispielsweise eine an der Universität Harvard durchgeführte Untersuchung einer auf die Behandlung mit Psychopharmaka spezialisierten Arbeitsgruppe gezeigt, dass die Hälfte der Patienten nach Absetzen eines Antidepressivums innerhalb eines Jahres erneut entsprechende Symptome aufwiesen.10 Die Medikamente, selbst die wirksamsten, sind also bei weitem kein Allheil- oder Wundermittel für die emotionale Gesundheit. Im Grunde wissen die Patienten dies sehr wohl und nehmen sie daher bei Problemen, die Teil des Lebens eines jeden sind – ob es sich nun um einen Trauerfall oder um Stress in der Arbeit handelt –, oft nur widerwillig ein.
Abbildung 1: Das limbische Gehirn – Tief im Inneren des Gehirns befindet sich das emotionale Gehirn. Die so genannten limbischen Bereiche sind bei allen Säugetieren gleich und bestehen aus Nervengewebe, das sich von dem der für Sprache und Denken verantwortlichen Hirnrinde unterscheidet. Das limbische System ist für Gefühle und Überlebensreaktionen zuständig. Ganz zuunterst befindet sich der »Mandelkern«, die Amygdala, von der alle Angstreaktionen ausgehen.
EIN ANDERER ANSATZ
Nun bildet sich heute jedoch auf dem gesamten Erdball allmählich eine neue Medizin der Emotionen heraus: eine Medizin ohne Psychoanalyse und ohne Valium. So beschäftigen wir uns in der Shadyside-Klinik der Universität Pittsburgh seit fünf Jahren mit der Frage, wie man Depressionen, Angstzustände und Stress mit Hilfe einer Reihe von Methoden lindern kann, die eher auf den Körper als auf die Sprache zielen. In vorliegendem Buch beschreibe ich die verschiedenen Strategien dieses Programms, warum wir uns für sie entschieden haben und wie wir sie einsetzen.
Die Grundprinzipien lassen sich folgendermaßen zusammenfassen:
• Im Inneren des Gehirns befindet sich ein emotionales Gehirn, wahrhaft ein »Gehirn im Gehirn«. Es verfügt über eine andere Struktur, eine andere Zellenanordnung, und selbst seine biochemischen Eigenschaften unterscheiden sich von denen des übrigen »Neokortex« – das heißt, des am höchsten »entwickelten« Bereichs des Gehirns, der Großhirnrinde, in der die Sprache und das Denken angesiedelt sind. In der Tat funktioniert das emotionale Gehirn oft unabhängig vom Neokortex. Sprache sowie Wahrnehmung und Erkennung haben nur begrenzten Einfluss darauf: Man kann einem Gefühl nicht befehlen, stärker zu werden oder zu verschwinden, so wie man seinem Verstand befehlen kann, zu sprechen oder still zu sein.
• Das emotionale Gehirn kontrolliert seinerseits alles, was das psychische Wohlbefinden regelt, sowie einen Großteil der Körperphysiologie: die Herzfunktion, den Blutdruck, die Hormone, das Verdauungs- und sogar das Immunsystem.
• Probleme, die das Gefühlsleben betreffen, sind die Folge von Funktionsstörungen des emotionalen Gehirns, von denen viele ihren Ursprung in schmerzlichen Erlebnissen der Vergangenheit haben. Sie beziehen sich in keiner Weise auf die Gegenwart, haben sich jedoch dem emotionalen Gehirn unauslöschlich eingeprägt. Eben diese Erlebnisse kontrollieren oft weiterhin unser Empfinden und Verhalten, gelegentlich noch Jahrzehnte später.
• Hauptaufgabe des Psychotherapeuten ist es, das emotionale Gehirn auf eine Weise »umzuprogrammieren«, dass es sich an die Gegenwart anpasst, anstatt auf Situationen der Vergangenheit zu reagieren. Zu diesem Zweck ist es oft wirksamer, Methoden anzuwenden, die über den Körper gehen und das emotionale Gehirn unmittelbar beeinflussen, als sich auf die Sprache und die Vernunft zu verlassen, für die es kaum empfänglich ist.
• Das emotionale Gehirn verfügt über natürliche Mechanismen der Selbstheilung: die angeborene Fähigkeit, wieder zu Harmonie